So viele Schubladen, doch wo bleibt das große Bild (via Turtlemoon, Flickr)
Es gibt eine kleine Szene in der amerikanischen TV-Serie “The Wire“, die ein aktuelles Dilemma des Journalismus auf den Punkt bringt. In dieser möchte ein Stadtreporter der (fiktiven) Baltimore Sun seinem Chef eine komplexe Geschichte über den schlechten Zustand des städtischen Schulsystems verkaufen. Das Problem: Es gibt keinen “Guten“ und keinen “Bösen“ – verschiedene Faktoren spielen eine Rolle, die sich nicht so einfach auf einen Nenner bringen lassen. Der Chef ist entsetzt – er möchte eine kräftige Schlagzeile. Mit den Worten “Wenn Du alles drin lässt, hast Du am Ende gar nichts“, bürstet er den Reporter ab.
Ich hoffe, dass solche Szenen in deutschen Redaktionen noch die Ausnahme sind, doch das Beispiel bildet ein Problem ab: Im Kampf um die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne des Lesers spielen Eyecatcher und steile Thesen eine immer größere Rolle. Differenzierungen schrecken ab, weil sie nicht zum Hinsehen, Kaufen oder Klicken locken (sowie Arbeitszeit und Manpower benötigen).
Dabei müsste es doch eigentlich genau andersherum sein: Wie David Weinberger bemerkt, dessen Buch “Everything is Miscellaneous“ demnächst in deutscher Sprache (Titel: “Das Ende der Schublade“) erscheint, leben wir in einer Zeit, in der wir uns auf Unschärfen einstellen müssen (hier das Interview mit dem Elektronischen Reporter). Die binäre Welt des Computers hat die binäre Weltsicht des „richtig oder falsch“ zum großen Teil überflüssig gemacht. Das bedeutet, dass die einfache Schlagzeile selbst eigentlich an Wert verlieren müsste, weil sie nicht mehr der Komplexität unserer Welt (und der durch das Netz erreichbaren Informationen) gerecht wird. Als Korrektiv führt Weinberger die Blogosphäre an, die einfache Dinge wieder kompliziert macht und verschiedene Hintergründe zusammenführt.
Soweit, so gut. Aber sind inzwischen nicht alle Formen der „Online-Publizistik“ an die Aufmerksamkeitsökonomie der sekundenschnellen „Pointe“ gekettet, zumindest, wenn es sich um Short-Tailer handelt? „Ja, aber“-Journalismus klickt sich im Netz genauso schlecht wie „Ja, aber“-Blogs. Nicht zuletzt sind hierzulande medienkritische Blogs (die ja quasi immer mit der Vorbotschaft „Medium xy hat Mist gebaut“ arbeiten) gut besucht, in den USA sind es die Partisan Blogs, die sich ganz klar einer politischen Richtung verschrieben haben – oder Klatschmaschinen wie Gawker, deren Herangehensweise längst die schlimmsten Schattenseiten der Professionalisierung des Mediums zeigt (wie gesagt, ich rede hier nicht vom Long Tail!).
Das Schöne ist, dass ich in diesem Blog keine fertigen Gedanken veröffentlichen muss – es lassen sich zu den genannten Beispielen sicherlich Gegenargumente finden. Aber ich frage mich, was es bedeutet, dass die wachsende Tiefe der im Internet auffindbaren Informationen mit einem immer oberflächlicheren Konsum dieser Informationen einhergeht. Mir schwant, dass wir die Folgen dieser Schnellverarbeitung, gepaart mit dem weiter zunehmenden Zeitmangel unserer Gesellschaft noch nicht einmal absehen können.
Disclaimer: Ich bin momentan für ein Hamburger Online-Medium tätig.