Ein verbaler Brandsatz wie der obige im deutschen Fernsehen? Unvorstellbar. In den USA hingegen ist MSNBC-Moderator Keith Olbermann nicht erst seit seiner 12-minütigen Wutrede im Mai zum Helden des liberalen Fernsehpublikums geworden. Die amerikanische TV-Nachrichtenlandschaft, die über Jahre hinweg von Rupert Murdochs FOX dominiert wurde, sie hat sich verändert: Am Ende der Vorwahl-Saison schaffte es MSNBC (Eigentümer: General Electric) erstmals, FOX um 200.000 Zuschauer zu übertrumpfen.
Die guten Quoten liegen nicht nur darin begründet, dass zu diesem Zeitpunkt nur das demokratische Rennen noch etwas vermeintliche Spannung bot; es zeigt auch eine vorläufige Renaissance der linken TV-Bevölkerung, die MSNBC dankbar aufgreift: Das Programm ist von Olbermann noch mehr geprägt als Fox von dessen rechten (und recht krassen) Konterpart Bill O’Reilly. Mit dem verbindet Olbermann die Lust am Angriff (wenn auch etwas nuancierter und ironischer), am Bezug klarer politischer (in dem Fall demokratischer) Positionen – das Hervorkommen hinter genau jener neutralen Deckung, die am Mainstream-Journalismus nicht nur in den USA heftig kritisiert wird.
Bereits im Februar 2007 fragte das Magazin American Journalism Review deshalb “Ist Keith Olbermann die Zukunft des Journalismus?“ In diesem Artikel nahm auch ich Olbermann zum ersten Mal wahr und war angezogen und skeptisch zugleich: Tatsächlich ist die subjektive Herangehensweise in einem sowieso von politischer Verzerrung geprägten Klima verlockend, ja wahrscheinlich sogar notwendig. Doch mit der starken Bindung MSNBCs an die Marke Olbermann gehen Gefahren einher, die auch im aktuellen New Yorker thematisiert werden. So wenig wie FOX noch von Außenstehenden als neutrale Quelle politischer Berichterstattung wahrgenommen wird, so wenig könnte dies bald bei MSNBC der Fall sein. Erste Anzeichen dafür liefern die ständigen Streitereien mit der Clinton-Kampagne und der allgemeine “Obama-Bias“, von dem im Zusammenhang mit Olbermann und anderen Moderatoren immer wieder die Rede ist.
Ich weiß, es ist altmodisch, die Vorzüge der Neutralität zu preisen. Auf dem Weg in die Post-Fakt-Gesellschaft, in der “Truthiness“ unsere Entscheidungen bestimmt (sorry für’s Namedropping), wird der Abschied von der Unabhängigkeit vielleicht keinen Unterschied mehr machen. Es könnte aber auch sein, dass es für das kommende Zeitalter genau das Kapital ist, das Medien und Blogs nicht aus dem Fenster werfen sollten, weil es die Möglichkeit bietet, mit neuen Aspekten und Meinungen zu überraschen. Keith Olbermann hat sich seinen Platz verdient – doch er sollte die Marke MSNBC nicht so dominieren, wie er es im Moment tut.
Manueller Dank und Trackback
http://anmutunddemut.de/node/6226
Wow, ich hatte davon gelesen, aber es zu sehen war doch eine ganz andere Erfahrung. Ich mag es, wenn klare Positionen bezogen werden, das erscheint mir sehr viel besser als die allgemeine Pseudo-Neutralität, die sich aktueller Journalismus so gerne auf die Fahne schreibt und doch nur zu schlecht versteckter Subjektivität führt.
Ob man soetwas im deutschen Fernsehen sehen könnte? Nun, falls unsere Politik jemals in solche Koma-Regionen abdrifted, na ich hoffe es doch! Aber ich befürchte – Nein.
@barbex: Ich bin immer hin- und hergerissen. Objektivität ist ein Gut, das, wie ich geschrieben habe, in einer Welt voller Spin noch sehr viel wert sein kann. Ich habe heute einen schönen Satz gelesen: Journalismus muss nicht neutral sein, er muss Dinge auf den Punkt bringen. Die Frage ist, ob Keith Olbermann zugetraut wird, die Dinge zu benennen, wenn ein demokratischer Präsident im Weißen Haus ist. Oder, ob ein republikanischer Präsident eine Chance auf faire Bewertung erhalten würde. Das ist das Dilemma.
Zum Thema schreibt übrigens auch Jay Rosen ein paar schlaue Sachen – er ist von der Macht der Fakten und der Anziehungskraft der Integtrität überzeugt. http://tinyurl.com/33z6wp
[…] Glaubwürdigkeitskrise der Politik sorgt also auch dafür, dass journalistische Glaubwürdigkeit neu definiert […]
[…] sicher aber ist: Die Zeit des Konsens ist vorbei, und wir erleben unausweichliche Phänomene wie Truthiness, das Ende der gemeinsamen Realitätsraums und die extreme Aufspaltung in […]
[…] gesellschaftlicher Diskurs auf Post-Fakten-Basis existiert in den USA schon seit mehr als einem Jahrzehnt, in Deutschland ist er erst in den vergangenen Jahren prominent geworden. Er ist, so merkt sie an, […]
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