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Die Retro-Republik

Die Berliner Politik propagiert den Gedanken, Deutschland könne seinen Wohlstandslevel ohne große Veränderungen halten. Eine Illusion, deren Verbreitung unehrlich wie gefährlich ist.
Retro
Zurück in die frühen Siebziger (Foto via biphop, Flickr)

Der politisch interessierte Beobachter in mir muss zugeben, dass er sich freut: Es ist Sommerpause im politischen Berlin, nach Monaten des Gezänks, des Spins, der Stagnation, einer Lähmung, die weit über die Große Koalition hinaus ging.

Eigentlich finde ich an Sommerpausen selten Gefallen, weder beim Fußball, noch in der Politik. Doch in der aktuellen Situation liegt eine bleierne Schwere in der Luft, eine Schwere, die verdrossen macht; was sich in Berlin in den vergangenen Monaten abgespielt hat, erinnert an die letzten Jahre der Kohl-Regierung, nur ohne die Verheißung eines unvermeidbaren kulturellen Wandels, der damals mit Rot-Grün assoziiert wurde.

Weil beide Volksparteien in ihrem Bündnis bis 2009 eingesperrt sind und die Oppositionsparteien keine programmatischen Akzente setzen, kann keine Aufbruchstimmung entstehen. Stattdessen finden wir uns in einer Retro-Republik wieder, in der mit den Träumen und Konflikten von gestern an den Problemen von heute vorbeiregiert wird. Vollbeschäftigungs-Versprechen, die Renten- oder die geplante Kindergeld-Erhöhung erinnern fatal an die Umverteilungspolitik und die Utopien der Siebziger. Hinzu kommen Debatten über Atomausstieg, Familienbild und Migration, die parteiübergreifend durch die ideologischen Gefechte der Folgejahre von 1968 geprägt sind.

Immerhin: Wo Kulturkämpfe ausgetragen werden können, herrscht noch identitätsstiftender Gestaltungsspielraum für die einzelnen Parteien. Im Bezug auf die Felder Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik sind diese Möglichkeiten hingegen begrenzt: Die Politik kann das de-facto Primat der globalisierten Wirtschaft über ihre Entscheidungsfindungen nicht komplett anerkennen, weil sie damit ihre eigene Legitimation beschädigen würde. Da sie aber eine symbolische Gerechtigkeit simulieren muss, erschöpft sich die Aktivität meist in Umverteilungsmaßnahmen, die niemandem weh tun dürfen und zu aufgeblähten Haushalten, hohen Schulden, komplizierten Gesetzen und einer wuchernden Bürokratie führt.

So gibt es ein Mischsystem aus subventionierter privater Arbeitsvermittlung und überbürokratisierten BfAs statt Lohnauffüllung und kommunaler Vermittlung; ersetzen Kindergeld- und –freibetrag adäquate Betreuungsmöglichkeiten, steigende Sozialbeiträge die fehlende Effizienz bei der Vermittlung der entsprechenden Leistungen, mit Industrielobbyismus durchwucherte Umweltgesetze den ernsthaften Klimaschutz.

Die Grabenkämpfe der Sechziger dürften sich bald erschöpft haben. Während in den USA gerade Barack Obama zeigt, wie befreiend die Loslösung vom schweren ideologischen Gepäck dieser Zeit sein kann, wird hier die nächste Regierung die Kulturschlachten der Schröder-Zeit (oder jetzt, redux in der Atom-Debatte) vielleicht sogar vermissen, weil ihr Fehlen die schrumpfende Einflusszone und den mangelnden Mut der Politik klar zum Vorschein treten lassen wird.

Um eine wachsende Verdrossenheit der Bürger zu verhindern, täten alle Parteien deshalb gut daran, in der Sommerpause in sich zu gehen und schnellstmöglich von der derzeitigen Retro-Politik Abstand zu nehmen. Ein erster wichtiger Schritt wäre Transparenz; Transparenz, was die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten angeht, aber auch was die Verflechtung von Parteien und Lobbygruppen betrifft (was letztlich in deren sinkenden Einfluss münden würde). Vielleicht würde dies den Weg für die richtigen, weil einschneidenden Änderungen ohne Rücksicht auf Partikularinteressen bahnen. Zumindest wäre es weniger (be-)trügerisch als das Schüren der Hoffnung, Deutschland steuere mit Hilfe einer Zeitmaschine zurück vermeintlich goldene Zeiten.

3 Gedanken zu „Die Retro-Republik“

    f.lübberding sagt:

    Also was haben denn solche simplen fiskalischen Ereignisse wie eine minimale Rentenerhöhung oder eine noch nicht einmal beschlossene Kidergelderhöhung mit Utopien der 70er Jahre zu tun? Vor allem, wenn ich beim besten Willen nicht weiß, welche Utopien denn damit gemeint sind? Der Maoismus heutiger Welt- oder Handelsblatt Chefredakteure wohl nicht … . Statt das harte Brot durchaus kontrovers zu diskutierender Makro-Ökonomie zu kauen, neigen gerade politische Journalisten gerne dazu, ihre wirtschaftspolitischen Annahmen ideologisch zu überhöhen, so mein Eindruck … . „Zumindest wäre es weniger (be-)trügerisch als das Schüren der Hoffnung, Deutschland steuere mit Hilfe einer Zeitmaschine zurück vermeintlich goldene Zeiten.“ Also wer gerade mit einer Zeitmaschine in vermeintlich goldene Zeiten – nämlich in die Zeit vor 1929 – zurückzusteuern versuchte, war der Finanzmarkt … und liegt jetzt mit einem Kolbenfresser am Strassenrand. Sollte man vielleicht einmal diskutieren.

    Gruss

    Frank

    joha sagt:

    Lieber Frank Lübberding,
    die Utopie und die goldenen Zeiten beziehen sich auf die Siebziger, in denen wir quasi Vollbeschäftigung hatten. Diese Illusion lässt sich in einer globalisierten Weltwirtschaft nicht aufrecht erhalten, selbst wenn wir plötzlich anfangen, alle Einwohner dieses Landes wie verrückt auszubilden (was wir nicht tun!).

    Aber dennoch wird es propagiert – und auf anderer Ebene simulieren wir, dass der Staat nicht nur dafür da ist, die Menschen sozial abzusichern, sondern auch dafür, einen gewissen Grad von Wohlstandssicherung zu garantieren. Da wird dann eben mit der monetären Gießkanne mal drüber gegangen, dass die HartzIV-Empfänger weitgehend trocken bleiben, lassen wir jetzt mal außen vor. Die Folge lässt sich durchaus im makroökonomischen Bereich erkennen, nämlich in einem Staatshaushalt, der sich immer weiter aufbläht (über Jahre, trotz meist sinkender Steuereinnahmen und über Schulden und/oder Privatisierungen finanziert), aber nicht, um gezieltes Deficit Spending oder ähnliches zu betreiben, sondern nur, um die Gießkanne zu füllen und ein paar Illusionstropfen zu verteilen.

    Mentions

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