Ich bezweifle, dass mit Phrasen a la “spätrömischer Dekadenz“ jemals fundierte gesellschaftliche Debatten angestoßen wurden, aber um der Sache Willen möchte ich Herrn Westerwelle ein paar Dinge entgegenhalten.
Wer sich mit Guido Westerwelles These vom sinkenden Lohnabstand beschäftigt, muss sich mit den Gründen auseinandersetzen: Seit Mitte der Neunziger heißt das Mantra des Exportweltmeisters Deutschland “Lohnzurückhaltung“. Um global wettbewerbsfähig zu sein, so die Theorie, muss das Produktivitätswachstum das Lohnwachstum deutlich übertreffen.
Das hatte zwei Folgen:
(1) Die Reallöhne (=inflationsbereinigte Löhne) sind in allen anderen europäischen Ländern im Zeitraum von 2000 bis 2008 deutlich gestiegen, in Deutschland sind sie gesunken. Die Rechnung ging insofern auf, als einige Unternehmen bei steigenden Lohnkosten mit großer Wahrscheinlichkeit ins Ausland abgewandert wären. Eine weitere Folge ist jedoch, dass der Binnenkonsum bei uns weiter brach liegt und wir inzwischen 6,5 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigen.
(2) Produktivitätswachstum wurde in vielen Unternehmen durch weitere Automatisierung erreicht. Das ist natürlich auch eine Frage des technischen Fortschritts, doch wo der Schalter durch Automaten oder die Kasse durch den Selbst-Check-In ersetzt wird, fallen wiederum Arbeitsplätze für Geringqualifizierte weg.
De Facto liegt das deutsche Problem nicht darin, zu viele unwillige Arbeitslose zu haben – im Gegenteil, Hartz IV ist inzwischen mit einem solchen Stigma versehen, dass die meisten Menschen sich lieber irgendwie jobbend durchschlagen, als diese Leistungen in Anspruch zu nehmen (sonst würde der Niedriglohnsektor ja nicht funktionieren). Das Problem ist, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt und deshalb selbst hochqualifizierte Menschen im Niedrigsektor arbeiten (laut einer Studie aus dem Jahr 2006 hatten ca. 75 Prozent der dort Beschäftigten eine abgeschlossene Berufsausbildung); das wiederum führt dazu, dass für die ungelernten Arbeitskräfte kaum noch Möglichkeiten bleiben. Und hier sind wir wieder beim Problem der Bildung und Ausbildung, die uns angesichts der demographischen Entwicklung in den kommenden Jahren noch stärker auf die Füße fallen wird.
Herr Westerwelle sollte sich deshalb einmal die bundesdeutsche Realität ansehen: Ich würde mich zur Mittelschicht zählen (Akademiker, mittleres Einkommen) und fühle mich von seinen Tiraden in keinster Weise angesprochen – denn heute ist die Gefahr, irgendwann einmal bei Hartz IV zu landen, selbst für Gutqualifizierte wie mich vorhanden. Natürlich müssen wir darüber reden, wie wir in einer postindustriellen Gesellschaft Gerechtigkeit definieren und wie wir den Menschen vermitteln, dass es niemals mehr auch nur annähernd genügend Jobs für so etwas wie „Vollbeschäftigung“ geben wird. Doch der Grundgedanke hinter den Äußerungen des FDP-Vorsitzenden ist mir dann doch eine allzu simple Lösung für ein komplexes Problem: Senken wir die Hartz-IV-Sätze ab, werden auch die Gehälter im Niedriglohnsektor mittelfristig runtergehen. Noch mehr Menschen also, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können.
Nichts ist einfacher, als medienwirksam über vorurteilbehaftete faule hartz-IV-er zu lästern, wenn man von den miseren in den eigenen reihen ablenken will. fdp-parteispenden und abzocker-manager in den eigenen reihen geraten so in vergessenheit.
Kleine Anmerkung am Rande: die Böckler-Stiftung ist nicht Grünen-nah sondern DGB-nah. Die Böll-Stiftung (auch was mit „ö“) ist die Stiftung der Grünen.
Ansonsten: Ja, ich denke auch, das Problem der fehlenden Arbeitsplätze in Millionenhöhe und die Lohnzurückhaltung der letzten Jahre wird in der aktuellen Diskussion unterschlagen.
@Tobias: Danke für den Hinweis. Wow, ich dachte nicht, dass jemand die Mouseovers liest 🙂