Endlich spricht es mal jemand aus! Journalisten sind sich selten einig, aber Andrea Dieners FAZ-Rant zu beleidigendem Leser-Feedback trifft offenbar einen Nerv. Nicht, dass das überraschen würde. Vom gedruckten Anti-Troll-Essay bis zum Hate-Slam: Beschwerden über schlechten Leser-Stil hat bei Medienschaffenden seit einiger Zeit Konjunktur.
Ein ernsthaftes Diskursangebot kommt – von Ausnahmen abgesehen – dabei nicht zustande. Wer mit “Trollen“ das Extrembeispiel wählt, vermeidet auch jegliche Verpflichtung, zu differenzieren oder über die eigene Position nachzudenken. Und darüber, wie professionell die deutsche Medienbrache 2014 mit ihren Lesern umgeht. Deshalb:
Eine kleine Leserkommentar-Checkliste für Journalisten
Bitte Zutreffendes markieren:
- Meine Redaktion hat eine klare Vorgabe zum Umgang mit Leserfeedback.
- Diese Politik lässt sich in zwei bis drei Sätzen beschreiben.
- Diese Sätze lassen sich nicht in “Ignorieren“ oder “Wer mag, darf sich einschalten“ übersetzen.
- Die Vorgaben gelten unabhängig von einer bestimmten Plattform/ von einem bestimmten Eingangskanal.
- Teilnahme an der Leserdebatte steigert meine Wertschätzung in der Redaktion.
- Meine Chefredaktion hat Anreize geschaffen, sich einzumischen.
- Dialogfähigkeit wird als journalistische Kernkompetenz geschätzt.
- Ich erhalte Zeit für den Leserdialog.
- Ich kann für die Formulierung von Antworten fachliche Hilfe beanspruchen, wenn ich sie benötige.
- Ich kenne die Moderationspolitik bei drastisch formulierter Kritik und persönlichen Beleidigungen.
- Ich weiß, welche Gegenmaßnahmen (Sperrung, Rechtsabteilung, etc.) im Falle persönlicher Beleidigungen möglich sind.
- Ich weiß, mit wem ich über meine Erfahrungen sprechen kann.
- Ich fühle mich sicher im Leserdialog.
Für mich sind all diese Punkte ein Signal für Professionalität. Nun können wir sicherlich über einzelne Aspekte diskutieren; das Problem ist aber, dass viele Redaktionen noch nicht einmal festgelegt haben, dass Leserdialog überhaupt Teil ihrer Aufgabe ist (Ausnahmen sind in der Regel bestimmte E-Mails und das Elitenmedium Twitter). Wenn das aber nicht entschieden wurde, warum also Kommentarfelder anbieten? Warum die E-Mail-Adresse zugänglich machen, statt per Filter alles in die Ablage P wandern zu lassen?
Aufhören oder Aufhören mit dem Durchwurschteln?
Deshalb zwei Vorschläge: Lassen wir das mit dem Leserdialog, mit all den Konsequenzen. Kein Feedback, keine Trolle. Oder aber lasst uns professioneller werden; neue Dialogformen können ein Teil davon sein, die Erarbeitung von Souveränität sicherlich ein anderer.
Und das ist meine Erfahrung, aus Blogs, Foren-Mitgliedschaften und Community-Aufgaben: Wer sich mit den Leserfeedback und Kommentaren auseinandersetzt, gewinnt nach einiger Zeit eine enorme Gelassenheit, auch gegenüber fieser Kritik. Vor allem aber genieße ich es, dass sich eine völlig andere Kommunikationsebene mit jenen Menschen auftut, die uns Zeit und/oder Geld geben. Nicht immer – aber deutlich häufiger, als das laute Wehklagen über Trolle vermuten lässt.
P.S: Ich habe mich absichtlich auf die praktischen Aspekte beschränkt. Worüber wir auch reden sollten, ist eine der Ursachen für fehlenden Respekt: die sinkende Glaubwürdigkeit, die für mich eine größere Gefahr für die Zukunft des Journalismus ist, als jede Bedrohung durch die angebliche „Gratiskultur“.
Lesenswert zur Debatte:
Ah. Schön! Ich hätte Dir beinahe schon eine Mail geschickt, um Dich bei dem Thema nach Deiner Meinung zu fragen (wenn ich nicht gerade so arschviel zu tun hätte).
Jetzt frage ich nochmal hier: Einer der Kommentatoren drüben bei mir hat die These aufgestellt, dass die Verlage die Trollkultur über die Jahre hinweg durch Nichtstun und Abwesenheit der Redaktionen gezüchtet hätten. Siehst Du das auch so?
@Ben: die kurze Antwort – ja. Beteiligung selbst ist noch keine Garantie, dass Leserdialog funktioniert, aber sie ist die Grundvoraussetzung (dazu kommt noch Förderung positiven Verhaltens, klare Regeln, integrierende Kommunikation).
johannes,
ich befürchte, das alles hätten die onlineredaktionen schon vor 10 jahren machen müssen. der schaden ist angerichtet und ich habe keine ahnung, wie dieser (un)geist wieder in die flasche zurück gestopft werden könnten.
über meine diesbezüglichen erfahrungen habe ich mich ja „bei mir zuhause“
http://hinterwaldwelt.blogspot.de/2014/07/mein-kommentar-zu-christoph-kappes.html
ausgelassen, und das ist in den letzten 3 jahren nicht der erste sondern einer von vielen rants, im grunde existiert der „quixiot“ nur, weil breivik die folgen dessen, was da passiert, „manifest“ gemacht hat.
@Hardy: Mhhh. Breivik ist ein guter Punkt. Den hatte ich schon wieder völlig vergessen. Das sollte man in der Diskussion aber nicht und die „Leitmedien“ können sich an der Stelle auch nicht davon frei machen. Guter Punkt. Darüber muss ich mal noch mehr nachdenken.
Hallo Herr Kuhn,
Vielleicht erinnern Sie sich noch an ZEIT- Online (da hätte ich weiter schreiben können, wollte aber nicht mehr).
Ich verfolge, was Sie so schreiben und berichten, für die SZ. Für mich, ist es meist sehr überzeugend, gut geschrieben und einfallsreich. Kurz, ich bin schwer begeistert und beeindruckt, wie unendlich viel mehr, als die schon bekannte, gute Moderation, von Ihnen da kommt. – Z.B.: Zuletzt das kurze Stück zu Googles „Moonshot“, der Gesundheitskontrolle per Sensor!
Sie sind sich treu geblieben und, was fast noch wichtiger ist, sie treffen mit ihren Thesen, den Nagel sachlich auf den Kopf. Entspannung, Respekt und gegenseitige Achtung ist angesagt.
Davon haben wir alle was, wenn es nur mehr eingeübt würde. Das machte den Profi- Journalismus nicht nur erträglicher und glaubwürdiger, sondern trüge ihm auch viel mehr vertrauliche Quellen ein. – Wenn er dann noch Zeit hätte, sie zu prüfen (;-)), wäre die Welt wunderbar und mehr Menschen könnten verhindern, dass ihnen Einblick und Kontrolle verweigert wird, obwohl sie mündig und Staatsbürger sind.
Trolle und Schimpfer gibt es in der realen und in der digitalen, eher virtuellen Welt. Früher fingen das die Damen und Herren der Leserbrief- Redaktion ab, heute geht es eben auch an die Autoren. Aber, wie sie treffend sagen, es gehört zur Professionalität, damit umzugehen und erweitert diese, um wichtige Kernkompetenzen.
Über Andrea Dieners Beitrag in der FAZ, ärgerte ich mich ganz in ihrem Sinne.
Auch wenn ich mit der derzeitigen außenpolitschen Generalline ihres Blattes, Herr Kuhn, nicht viel anfangen kann, bin ich von der Ernsthaftigkeit, aber auch dem Witz und Esprit ihrer Beiträge dort, fest überzeugt. Ein paar Mal habe ich Sie in meinen Blogs empfohlen und erwähnt. Alas.
Jetzt nutze ich einfach ´mal die Gelegenheit und den Fund des „Kopfzeilers“, um Ihnen persönlich zu schreiben.
Nur weiter so, nur das Beste
Christoph Leusch
Lieber Christoph Leusch, herzlichen Dank für die warmen Worte!