Seit ziemlich genau einem Jahr leben wir in San Francisco und das ist eine gute Gelegenheit für ein paar Zwischen-Gedanken.
(1) San Francisco ist großartig. Ich kenne keine Stadt, die so viele unterschiedliche Ecken, Eindrücke, Winkel und Aussichten bietet. Es ist ein Genuss, an manchen Tagen durch die Haight zu joggen, die Vulcan Stairs hochzuwandern oder auf Berannt Heights diesen wahnsinnigen Blick auf die Stadt zu haben. Ich werde SF und seine Orte nie satthaben.
(2) San Francisco ist großartig, aber leider schon in einem hyperzivilisatorischen Stadium, das womöglich einige lebenswerte Metropolen in Industrienationen in den nächsten Jahren erreichen werden. Von der klassischen progressiven Kultur ist wenig übrig, Beat Generation und Hippie-Zeit sind Folklore, Subkultur-Schaffende sind schon längst weg. Und wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich Facebook-Busse, Google-Lieferdienste oder Ubers an viktorianischen Häusern vorbeifahren.
(3) Und ich sehe Obdachlose, die mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr zurück in irgendeine geordnete Form von Gesellschaft kommen werden. Wir kennen viele schon beim Namen. Als Europäer machen dich die amerikanischen Gegensätze ohnehin schon verrückt, aber Tech, seine First-World-Fortschritte und seine manchmal Wallstreet-artigen Protagonisten sind ein krasser Gegensatz zu 8000 Menschen, die auf der Straße leben.
(4) Der Boom verändert auch das Leben für alle zwischen arm und reich, vor allem die Preise für Dienstleistungen, Lebensmittel, Restaurants, Drinks und vor allem Mieten. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis wir wegziehen müssen.
(5) Mein Verhältnis zu Tech ist in den vergangenen Monaten realistischer geworden. Die Logik des Risikokapitals (Produkt skalieren, Märkte erobern, Renditen über Marktdurchschnitt ermöglichen) bestimmt wesentliche Entwicklungen im Silicon Valley. Die Form folgt der Funktion.
(6) Mir war vorher nicht ganz klar, welch starker Ankerpunkt die kalifornische Ideologie ist. Ich kenne keinen anderen Ort, an dem Skepsis und Zynismus den meisten Menschen derartig fremd sind. Das ist für einen Europäer eine faszinierende Erfahrung, erschwert aber jede nuancierte Debatte über die gesellschaftlichen Folgen einer Technologie. Fortschritt gilt hier als Wert an sich, genau wie der globalisierte Hyperkapitalismus als alternativloses Betriebssystem anerkannt ist.
(7) Wer das alles im Hinterkopf behält, die 85 Prozent Bullshit-Ideen (gerade im B2C-Software- und App-Bereich) vorbei schwimmen lässt und einen Hochstapler-Detektor entwickelt, findet sehr viel Spannendes. Gerade im derzeit anlaufenden Hardware-Zyklus. Und vieles, dessen Konsequenzen noch nicht annähernd seriös einschätzbar sind.
(8) In diesem Ideenlabor sind sehr viele unglaublich begabte Menschen unterwegs; mit weitem oder sehr begrenztem Horizont, mit Überblick oder Spezialfähigkeiten, mit moralischem Kompass oder mit einem Mangel an Reflexionsvermögen ausgestattet. Ich bin als Beobachter immer noch in der Lernphase und verstehe nur einen Bruchteil von allem, und diese Lernphase hört hier niemals auf. Für niemanden. Seid vorsichtig mit denen, die so tun, als hätten sie den Durchblick.
(9) Das Besondere der Startup-Szene, soweit ich das als Beobachter und Nachfrager beurteilen kann: Der extreme Antrieb, Hindernisse zu überwinden und die ausgeprägte Bereitschaft aller Akteure, sich gegenseitig zu helfen. Gerade angesichts der Konkurrenzsituation ist das wahrscheinlich einmalig.
(10) Das Besondere in einigen Tech-Konzernen (oder erwachsenen Startups): Der Glaube der Mitarbeiter daran, dass ein Einzelner etwas bewegen und die Entwicklung des Unternehmens mitbestimmen kann. Mit ihm steht und fällt eine Firma und der Aufwand einiger Chefs, ansprechbar zu sein, ist enorm. Oft genug ist es aber auch Folklore, die sich mit kostenlosem Mittagessen leichter verdauen lässt.
(11) Erwähnenswerte Fußnote zu (9) und (10): Die bis ins Sektenhafte gehende Identifikation einiger Mitarbeiter mit der Mission ihrer Firma und/oder den Gründern. Hat auch mit (6) zu tun.
(12) Ebenfalls am Rande erwähnenswert ist, wie mies die meisten Valley-Firmen in der Internationalisierung sind. Das ist zum Teil richtig gruselig.
(13) Die Blase wird platzen. Jeder meiner Bekannten und Gesprächspartner, der Dotcom mitgemacht hat, ist dieser Meinung. Ich tippe auf das erste Halbjahr 2016, wenn die anstehenden Zinserhöhungen der Fed durchschlagen, einige Startups mit hoher Burnrate werden schon in den kommenden Monaten Probleme haben, Geld zu sammeln. Die Frage ist, welche Folgen das haben wird. Tech wird nicht verschwinden, viele Firmen verdienen gutes Geld. Im Worst-Case-Scenario schlägt der Startup-Crash auf einige börsendotierten Firmen und dann auf Realwirtschaft durch, im besten Fall geht der aktuelle Software-Zyklus nur etwas schneller zu Ende, verschwinden die Goldgräber und Bro-Gründer von der Bildfläche (okay, das mit den Bros ist mein Wunschdenken).
(14) Die oben beschriebenen Mängel und das schiere Ausmaß des digitalen Umbruchs lassen durchaus Raum für „Tech deutscher Prägung“, wenn angesichts der fortgeschrittenen Zeit auch nicht überall. Dafür müsste Deutschland seine manchmal reflexhafte Technophobie ablegen und seine Anstrengungen vom Erhalt des Status Quo auf die Zukunft richten. (Notiz: unkritisches Tech-Cheerleading aus Deutschland langweilt mich genauso). Ein Bildungssystem muss eine Computer-Alphabetisierung zum Ziel haben, die aus Konsum-Blackboxen Werkzeuge macht.
(15) Das ist viel für eine alternde Gesellschaft, aber ich höre von den Schnittstellen zwischen der Westküste und Deutschland, dass derzeit zumindest in einzelnen Branchen ein Umdenken einsetzt. Und hey: Niemand kann damit zufrieden sein, dass das bekannteste deutsche Tech-Unternehmen eine Mischung aus Kopiermaschine und Menschenschinder-Betrieb ist.
(16) Viele meiner Eindrücke und Gedanken finden hier und in meiner journalistischen Arbeit aus unterschiedlichsten Gründen keinen Platz. Das soll sich etwas ändern: Im Laufe des April werde ich einen Newsletter starten, wer auf die Liste möchte (und Input geben will), einfach hier einen Kommentar mit E-Mail-Adresse (nicht öffentlich) hinterlassen oder an newsletter(at)kopfzeiler.org schreiben.
Ich freue mich über Gedanken, Feedback, Widersprüche!
Bitte eintragen!
Danke für den interessanten Blog! Ich wäre gern beim Newsletter dabei.
newsletter
Hallo Rico,
schöner Blog-Beitrag (bin über den Krautreporter-Newsletter hier gelandet). Mir fehlen in dem Post aber ein paar Beispiele zu deinen Beobachtungen. Vielleicht kannst du in die Punkte einfach ein paar Links integrieren, wie z.B. bei 6? Eigentlich könntest du alles fettgeschriebene mit passenden Links versehen 😉
Bitte nimm mich in den Newsletter auf.
Danke.
Götter, ist das schon ein Jahr her, dass Du dort bist?! Unglaublich.
Gedanken, Feedback, Widersprüche:
* Ich rätsele, welches wohl das bekannteste Deutsche Technunternehmen sei. Auf SAP trifft „Kopiermaschine und Menschenschinder-Betrieb“ zumindest irgendwie nicht so richtig zu.
* Ich frage mich auch noch, was Du mit „Tech deutscher Prägung“ meinst. Der CCC und die starke Linux-Bewegung hierzulande? Himmel ich muss auch Linux lernen. Alles andere ist mit Denken eigentlich nicht mehr zu rechtfertigen.
* „Hyperzivilisatorischen Stadium“ klingt spannend. Ich habe eine Idee davon, was Du meinst. Und um sicher zugehen frage ich mal nochmal nach: Das klingt nicht so, als würdest Du das für einen Fortschritt halten, oder? Und weil ich Dich ein bisken kenne frage ich mal noch weiter nach: Meinst Du das liegt an Deiner eigenen (Indie geprägten) Haltung? Darum Hand auf’s Herz: Wieviel Gutes bringt das Silicone Valley der Bay Area und den Welt?
* Fast als Letztes: Mach mir keine Angst! Wobei: Schon zu spät! Als Agenturmensch hat man ja immer Angst vor Rezesion und dem Platzen irgendwelcher Blasen. Ich glaube, dass wir eigentlich ganz gut dastehen und ich weiß von den meisten anderen Agenturen in meinem Umfeld, dass die von Krisen eigentlich immer profitiert haben. Open-Source ist halt immer günstiger.
Und bevor ich es vergesse: Ja, latürnich bitt in den Newsletter mit mir!
[…] aus Chronistenpflicht: Heute habe ich drüben bei Johannes zum ersten Mal ernstzunehmen von einem Ende der Startup-Blase […]
Schöne, kompakte und objektive Einsichten. Weiter so!
“ … dass das bekannteste deutsche Tech-Unternehmen eine Mischung aus Kopiermaschine und Menschenschinder-Betrieb ist“ ???
Sprichst Du von SAP? Darauf passen beide Attribute nicht so wirklich.
Oder wer könnte sonst gemeint sein? SAP ist der einzige echte deutsche IT global player:
http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_the_largest_software_companies
Ansonsten: spannender Einblick ins Valley, vielen Dank dafür!
Ich wurde gerne mehr hören! Hört sich interessant an!
Newsletter, bitte! Sehr interessante Einsichten.
Freue mich auf den Newsletter.
Sehr spannend. Möchte auch gerne für den Newsletter eingetragen werden.
schöne zusammenfassung, freue mich auf nesletter-vignetten.
Bitte eintragen 🙂
Newsletter, bitte
Ich will auch drauf, bitte!
Ich finde in Ihren Ausführungen meine Erfahrungen wieder, die ich von Anfang Juni bis Ende August 2007 in Kalifornien und speziell in San Francisco gemacht habe. Diese Offenheit der Technik geegnüber (der ästehtischen Technik vor allem!) hat meine eigene akute Technikphobie umgedreht und in eine genießenden Bejahung verwandelt.
Blase hin oder her, was einem in San Francisco begegnet ist ein absoluter Pioniergeist auf sehr vielen (auf allen?) Ebenen. Waren Sie schon einmal zum Gottesdienst in der Glide – Church (Taylor Street)? Und die Museen sind magische Orte, man geht hinein und kommt als eine andere/ als ein anderer heraus. Ich werde diesen Anspruch an die Schönheit und an die Gestaltbarkeit des täglichen Lebens (mittels genau der Ressourcen, die dazu geeignet sind, Horizonte zu eröffenen) niemals vergessen. Und ich freue mich sehr, dass eine ähnliche gelagerte Euphorie bei Ihnen anklingt.
Beste Grüße, IS
Kein Wort über Musik . Ich prange das an 😉
„Der globalisierte Hyperkapitalismus ist als alternativloses Betriebssystem anerkannt.“
Letztes finde ich ganz interessiert und denke jetzt darüber nach, wie man dieses Betriebssystem opensourcen könnte …
Danke für diese Liste. Einige deiner Gedanken, kamen mir ebenfalls nach meinen sechs Monaten. Wäre gerne länger geblieben und hätte auch gerne mehr mit dir über gemeinsame Erfahrungen und Eindrücke gesprochen.
Besonders interessiert mich dieser Punkt: „Ich kenne keinen anderen Ort, an dem Skepsis und Zynismus den meisten Menschen derartig fremd sind. Das ist für einen Europäer eine faszinierende Erfahrung, erschwert aber jede nuancierte Debatte über die gesellschaftlichen Folgen einer Technologie. Fortschritt gilt hier als Wert an sich, genau wie der globalisierte Hyperkapitalismus als alternativloses Betriebssystem anerkannt ist.“
Vielleicht findest du die Zeit dazu einmal einen ausführlicheren Artikel zu schreiben.
(Und bitte gerne ab in den Newsletter mit meiner Mail-Adresse.)
Ich bitte auch um Berücksichtigung danke
Hi Johannes,
wir wollten uns ja eh bei meinem nächsten Trip ins Valley treffen. Das wird nach jetziger Planung Ende April/ Anfang Mai der Fall sein.
Deine Chronologie an Erfahrungen und Einstellungen kann ich sehr gut nachvollziehen und ich bin trotz der sicher sehr oft gut gemeinten yippie-yeah-Stimmung im Valley immer sehr gut auf die deutsche Mentalität zu sprechen.
Und es ist gut und vor allem wichtig, wenn es auch eine kritische Haltung zum Tech-Hype gibt, denn der Mensch darf mit seinen Bedürfnissen nicht zu Gunsten von Hockey-Sticks geopfert werden.
Also, ich freue mich auf Deinen Newsletter und ein Kennenlernen.
Beste Grüße aus Berlin
Matthias Schmidt-Rex
Vielen Dank für das Feedback, mehr zum Newsletter demnächst.
@David: Rico ist zwar nur der Verlinker, die Beispiele reiche ich gerne im Newsletter nach, ich wollte es nicht zu komplex machen wird.
@Tim/Ben: Ich ahnte schon, dass das mit SAP verwechselt wird. Ich meinte ein Berliner Tech- und Investment-Konglomerat aus der Gegenwart.
@Ilona: Wie Sie merken, ist es bei mir eher ein gemischtes Gefühl. SF ist allerdings inzwischen schon in einer anderen Phase. Was ich an der Glide mag, ist der integrative Community-Ansatz. Schade, dass die Stadt so viel damit zu tun hat, das soziale System vor dem Kollaps zu bewahren – in diesem Spirit steckt so viel Gutes!
@Ben: Zur Stadt – Nein, ich halte das in der Tat für eine problematische Entwicklung, weil dadurch bestimmte gewachsene Strukturen zerstört werden und sich ein Trend deutlich zeigt: Lebenswerte Stadtzentren werden vor allem den Wohlhabenden vorbehalten sein, die eine Wirtschaft speisen, die auf die Bedürfnisse jener Wohlhabener ausgelegt ist (vgl. die x Lieferservices für alles mögliche hier und das Ziel, alles innerhalb von 60 Minuten zu liefern). „Tech deutscher Prägung“ => spontane Definition: Reflektierte Haltung bei der Entwicklung von Produkten, die Offenheit technologischer Ökosysteme einbeziehend und im Idealfall zu einem besseren Umgang mit globalen Ressourcen führend. Re: Blase -> Mache Dir keine Sorgen, ich sehe einen sich ständig erneuernden Aufholbedarf, der Euch noch sehr lange beschäftigen wird (wenn Ihr die richtigen Instrumente nutzt). Die große „Silicon Valley“-Frage: Ich glaube, im Moment weniger, als ich mir angesichts des Hypes wünschen würde. Mir ist auch zu wenig von der Tradition übrig, die zum Beispiel das Web groß gemacht hat. Aber wie geschrieben: Im Hintergrund passiert viel, von VR über Solarenergie und Energiespeicher bis hin zur Medizintechnik. Die Frage ist am Ende bei Technologie ja immer, für welchen Zweck sie eingesetzt wird.
@Egghat: Da bin ich gespannt auf Ergebnisse 😉
Biite eintragen, Danke
@Matthias: Super, da freue ich mich drauf. Melde Dich einfach, wenn Du Deine Terminpläne machst!
Beim Newsletter bin ich dabei 🙂
sehr spannend! bitte auch mich in den newsletter aufnehmen. vielen dank
Ich wäre auch gern auf der Liste, bitte.
Danke für den spannenden Bericht! + Newsletterabo
@Tim: Da darf mal Arvato auch nicht ganz vergessen. Die haben 66.000 Mitarbeiter, SAP 68.000. Arvato ist sehr wenig sichtbar, macht aber IT im ganz, ganz großen Stil. Was ich weiß ist, dass die Kommunen immer mehr ihrer IT an Arvator outsourcen … das ist halt nicht so Sexy wie Startups und auch nicht so disruptiv, aber es einfach links liegen zu lassen scheint mir fahrlässig.
Bitte eintragen, Danke.
Auch bitte eintragen. Freue mich auf den Newsletter 🙂
Spannende Beobachtungen. Würde gern den Newsletter bekommen.