Erwartet keine vereinheitlichende Theorie zu den gesellschaftlichen Mechanismen hinter dem, was in Deutschland passiert. Wenn es einmal eine Theorie des frühen 21. Jahrhunderts gibt, wird sie wahrscheinlich mit Identität, Grenzverlust/Entgrenzung, den nur oberflächlich gegensätzlichen Bewegungen von Vernetzung und Abgrenzung zu tun haben. Wahrscheinlich auch mit Religiosität*, Kultur; womöglich auch mit dem unangenehmen Konzept der Rasse. Andererseits sind all diese Konzepte ohnehin schon lange mit der fortschreitenden Moderne verbunden.
Ein auffälliges Symptom der Gegenwart ist das Misstrauen. Ich persönlich arbeite in meinem Job mit Misstrauen und pflege es, sonst würde ich meinen Job nicht gut machen. Misstrauen kann sehr gesund sein, auch für eine Gesellschaft.
Andererseits: Was, wenn Misstrauen eine Gesellschaft durchzieht? Ihren Diskurs, nicht nur als ständiger Zweifel an den Aussagen des „anderen“, sondern auch an den Motiven? Wir haben uns daran gewöhnt, dass es fast keine Instanzen mehr gibt, die dauerhaft Vertrauen „herstellen“ können; in der Wirrnis der Debatte über Köln, Flüchtlinge, Frauenfeindlichkeit scheint es manchmal so, als gebe es dafür nicht einmal mehr Mechanismen (die Instrumentalisierung von allen Seiten gehört sicher nicht dazu, btw.). Oder wir haben diesen Mechanismus noch nicht gefunden. Oder er muss immer wieder neu gefunden werden.
Ich habe letztes Jahr mal über das Ende der Konsenskultur und des gemeinsamen Realitätsraumes geschrieben. Ich glaube weiterhin daran, dass wir über die Moderne streiten sollten und das auch wieder rational möglich sein wird. Allerdings funktioniert das über die verschiedenen Realitätsräume hinweg nur, wenn diese durch irgendeine Form von Vertrauensprotokoll verbunden sind. Das ist gerade nicht auffindbar, hoffentlich nur im Rausch der Emotionalisierung (Anschlussfrage: wie sieht der Kater aus?).
*“Wahrscheinlich“ schreibe ich nicht aus „politischer Korrektheit“, sondern weil Religion im 21. Jahrhundert – soweit sie über das Persönliche hinausgeht – immer auch als Antwort auf die Bewegung der Welt hin zu Wissenschaft und ihrer Tochter, der Rationalität, zu denken ist. Vgl. Identität, Abgrenzung.
Oh! Schöner Text. Da melden sich ja gleich zwei Herzen in mir zu Wort: Zum einen der politische Philosoph und zum anderen der Neuhippie.
Erstmal der Philosoph: Für das „Andererseits“! Wenn wir eines aus der gesamten Geschichte der Staaten, vor allem aber aus der Geschichte der deutschen Staaten gelernt haben, dann doch, dass eine freiheitliche Demokratie ein kontinuierlicher Prozess ist, in dem die verschiedenen Institutionen des Staates ihre gegenseitige Kontrolle optimieren müssen. Es ist vielleicht die zentrale Eigenschaft der wehrhaften Demokratie: Gegenseitige Kontrolle, Gewaltenteilung. Und der Grund dahinter ist natürlich ein Misstrauen. Der Wunsch nach einem starken Staat ist so tief in uns (Deutschen) verankert, führt aber unausweichlich ins Verderben.
Dann der Hippie: Die Gestaltung unserer Institutionen ist eine Sache. Klar müssen wir hier aus der Vergangenheit lernen und sie bestmöglich (und das heisst eben auch mit Misstrauen) aufbauen. Aber … das sind nur Krücken, Prothesen. Im inner der Gesellschaft, im inner der Gemeinschaft kann und muss zuerst die Liebe stehen, der gegenseitige Respekt, der Wunsch nach gesellschaftlichem Frieden. Und das bedeutet nuneinmal Vertrauen. Und Vertrauen ist zuallerst nicht rational. Wenn es rational wäre, wäre es Kalkül und kein Vertrauen. Anders werden wir als Zivilisation keine Fortschritte machen.
@Ben, der Philosoph: Aber was, wenn es diese Zielbewegung gar nicht gibt oder zumindest nicht als selbstverständlich zu sehen ist, auch nach den globalen Entwicklungen seit 1945/1989? Demokratie ist ein Zustand, den die meisten Menschen an den meisten Orten in den meisten Zeiten gar nicht kannten.
@Ben, der Hippie: Gesellschaftlicher Frieden wurde im Laufe der Geschichte immer wieder durch die Ausgrenzung des „Anderen“ zu stiften versucht. Was natürlich dann nur für die „Nicht-Anderen“ Frieden oder Konstanz barg.
Das Tolle an der Bundesrepublik ist/war, dass der Hippie und der Philosoph sich immer irgendwie einigen konnten, auch wenn dadurch manche Dinge länger dauern. Die Frage ist, auf welchem Fundament die beiden stehen.