Ich fühle mich bei der Suche nach dem historischen Jesus immer an die Dialektik der Aufklärung erinnert: Könnten wir ihn als Menschen freilegen und seine Verwandlung zur religiösen Figur genau nachvollziehen, wir würden die vergangenen 2000 Jahre mit völlig anderen Augen sehen. Aber das ist natürlich unmöglich, und wahrscheinlich würde das nichts an der Diskussion ändern, die sich inzwischen meist auf die Rolle von Religiosität in einer aufgeklärten Gesellschaft beschränkt.
Am Ende von Reza Aslans Buch „Zealot„ findet sich eine geschichtliche Weggabelung, die ich sehr interessant finde: Der Streit zwischen Paulus und der Gruppe um Jakobus, dem Bruder/Verwandten Jesu‘, um die Richtung der zu diesem Zeitpunkt durchaus unterschiedlichen Kirchen. Vereinfacht erzählt: Jakobus führte die Urgemeinde von Jerusalem an und wollte die Anhänger Jesus‘ nicht vom Judentum und der Tora trennen. Zudem trug seine Interpretation eine deutliche Anti-Reichtums-Ausrichtung. Paulus dagegen kam von außen und bekehrte Nichtjuden (häufig Polytheisten) zu Christen, sein Einfluss lag vor allem in Griechenland und Rom.
Die Gruppe der nichtjüdischen Christen wuchs schneller und gewann den größten Einfluss, unter anderem spielten die simpleren Regeln (keine Essensbeschränkungen, keine Beschneidung) dabei eine große Rolle. Aus einer einstigen jüdischen Sekte wurde so das Christentum, wie wir es heute kennen. Dass die Jakobus-Gruppe, immerhin in Jesus‘ Heimat aktiv, fast vergessen wurde, liegt auch an Martin Luther, der den (wohl nicht von Jakobus selbst stammenden) Jakobusbrief als „stroherne Epistel“ bezeichnete und ihn in seiner Bibel sehr weit hinten platzierte.
Einschub: Der Dualismus zwischen hellenistischem und jüdischem Christentum ist keine neue Interpretation, und sie ist wohl recht schematisch (es gab schon früh auch andere Strömungen). „Zealot“ folgt als populärwissenschaftliches Buch generell eher einfachen Erklärungsmustern. Und es ist deshalb sehr umstritten.
Was ich aber faszinierend finde, sind drei Sachen: (1) Wie würde die Welt – und damit meine ich nicht nur die religiöse – heute aussehen, wenn sich die Jerusalemer Urgemeinde durchgesetzt hätte? Würde das Christentum überhaupt existieren? (2) Was hätte dafür passieren müssen (oder umgekehrt: was machte Paulus „richtig“)? (3) Ist es nicht faszinierend, dass auch Religionsgeschichte von Siegern geschrieben wird?