Wir fahren mehr 30 Kilometer ins Nirgendwo, als wir Angola erreichen. Angola ist kein Land, sondern ein anderer Planet: Auf dem Gelände einer ehemaligen Sklaven-Plantage im Norden Louisiana befindet sich das größte Hochsicherheitsgefängnis der USA. Sean Penn spielt in Dead Man Walking einen der 87 Insassen, die bis 1991 auf dem „Gruesome Gertie“ genannten Elektrischen Stuhl hingerichtet wurden.
Im 20. Jahrhundert hielten sich einflussreiche Gefangene die Schwächeren als Sklaven, unter Duldung der Aufseher. Die Zustände haben sich in den vergangenen 20 Jahren verbessert, es gab Reformen, das Gefängnis bietet jetzt immerhin Ausbildungs- und Studien-Möglichkeiten. Doch Angola gilt auch immer noch als brutal, auch institutionell. An der Philosophie hat sich seit der Öffnung 1901 nichts geändert: Religion und harte Arbeit sollen die Insassen resozialisieren. Wenn sie denn die Aussicht haben, noch einmal entlassen zu werden.
„In gewisser Weise ist die Sklaverei in Angola niemals zu Ende gegangen. Sie wurde neu erfunden“, schrieb der Atlantic angesichts schwarzer Feld- und Werkstattarbeiter, die als Gefangene für zwei Cent die Stunde schuften (der Großteil der Insassen ist schwarz). Die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis hat den Begriff „Prison Industrial Complex“ dafür gefunden. Gnadenlos ist ein deutsches Wort, mit dem sich das System Angola vielleicht am besten beschreiben lässt.
Heute aber zeigt Angola sein freundliches Gesicht: Im extra dafür gebauten Stadion findet das Frühjahrs-Rodeo statt. Es ist einer der Höhepunkte des Jahres. Gefangene, die sich gut verhalten haben, dürfen bei der Show mitmachen und mit Kälbern ringen, Bullen reiten und fangen oder sich in Baseball-Montur an einen Pokertisch setzen, um von einem Stier angegriffen zu werden. Eine Band begleitet das Geschehen mit Live-Musik, die Zuschauer jauchzen und klatschen. In einem Extra-Block sitzen all jene Gefangenen, die zumindest das Recht zum Zuschauen erwirkt haben.
Rodeo im größten Hochsicherheitsgefängnis des Landes. Seltsamer wird’s nicht mehr. pic.twitter.com/AtiZotcr2u
— Johannes Kuhn (@kopfzeiler) 18. April 2016
Rund um die Arena sind Stände aufgebaut, Wärter verkaufen Essen, das Gefangenengruppen zugute kommt (frittiertes Snickers für einen guten Zweck, wer könnte nein sagen). Die Insassen selbst bieten Bilder, Holzmöbel oder Schmuck an. Sie sind meist männlich, von jung bis alt, einige sitzen im Rollstuhl. Die meisten sind schwarz. Einige der Verkäufer bewegen sich frei in den kleinen Märkten, andere haben einen Drahtzaun zwischen sich und ihren Waren. Man plaudert, spricht über die Objekte, über dies und das. Angehörige und Freunde sind gekommen, für sie ist es wahrscheinlich eine der wenigen Möglichkeiten, einmal in einer halbwegs natürlichen Umgebung mit ihren Verwandten zu sprechen. Kleine Kinder lauschen ihren Vätern auf der anderen Seite des Zaunes. Viele Besucher suchen aber auch einfach nur nach schönen und relativ günstigen Möbeln, auf dem Rückweg fahren wir an schwer beladenen Pickup-Trucks vorbei.
Ich weiß nicht, was dieser Sonntagnachmittag mich gelehrt hat. Angola lässt sich nicht ohne die strukturellen Ungerechtigkeiten des amerikanischen Justizsystems und der alttestamentarischen Härte des Strafvollzugs denken, die hier im Süden noch einmal gnadenloser als anderswo ist. Aber immerhin erhält Freiheitsentzug so ein Gesicht, wird enttabuisiert, wenn auch im Geiste des Spektakels.
Ich weiß nicht, was sich hinter den Gesichtern verbirgt. Wer hat ein Schwerverbrechen begangen (und glaubt mir, hier werden regelmäßig Gewaltverbrechen verübt, über deren Grausamkeit man in Deutschland wochenlang sprechen würde)? Wer sitzt nur wegen der Three-Strikes-Regel, weil die Gesetze übermäßig streng sind oder weil Pflichtverteidiger und Richter keine Lust hatten, den Fall genauer zu betrachten? Ich kann es nicht sehen, ich kann auch nicht hinter die Mauern der Baracken sehen, die in der Ferne stehen.
Hoffentlich werde ich dazu kommen, in diesem Jahr mal eine Geschichte über Angola zu machen. An diesem Nachmittag weiß ich erst einmal nur, dass es ein Geschenk ist, einfach so ins Auto steigen zu können, die lange Allee zum Gefängnistor hinunter zu fahren und zu wissen, dass dahinter die Freiheit wartet.