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Russland-Notizen zur US-Wahl

27/365 Days of Gnome

Die Frage nach dem russischen Einfluss auf die US-Wahl ist eine des Spins und der Wahrscheinlichkeiten. Ich sage zum Beispiel: Es ist viel wahrscheinlicher, dass Russland hinter den DNC/Podesta-Hacks steckt, als dass es eine direkte operative Verbindung zwischen Moskau und der Trump-Kampagne gibt. Wie wahrscheinlich ein Hack von Wähler-Datenbanken ist, kann ich nur schwer zu beurteilen.

Wer das hier liest und mir Autorität zuspricht, wird es in seine Bewertung einfließen lassen, doch das Ergebnis ist individuell. Gleiches wäre der Fall, wenn ich hier eine Theorie vorlegen würde, warum Hillary Clinton die nächste US-Invasion plant oder Donald Trump der Bank of China verpflichtet ist. Was wir als „Wahrheit“ bezeichnen, wird vernetzt hergestellt. Das war letztlich schon immer so, nur dass wir inzwischen digitalisiert auf fast unendlich viele Quellen und Menschen zurückgreifen können, um uns zu orientieren und unser Urteil zu treffen.

Vielleicht hat niemand die Folgen einer sich auffächernden Wahrheit besser und früher verstanden als Putin-Berater Wladislaw Surkow, der heimliche „Autor des neuen russischen Systems“. Peter Pomerantsew und in seiner jüngsten Doku auch der BBC-Filmemacher Adam Curtis sehen Surkow als Designer eines aus Postmoderne und künstlerischer Avantgarde abgeleiteten „Theaters ideologischer Konfusion„, in der niemand weiß, was echt und falsch ist. Im Falle von Surkow war dieses Theater häufig profan  – er unterstützte zum Beispiel Neonazi, aber auch Anti-Neonazi-Gruppen finanziell, niemand wusste, wo der Staat seine Hände gerade im Spiel hat. Der Einzelne fühlt sich so in einer „falschen Welt“ gefangen, in der alles unscharf ist und hinter jeder Tür eine weitere wartet.

In den USA finden sich schon länger solche Ansätze, in der Curtis-Theorie zunächst in „Gaddafi ist der Superbösewicht“-Erzählungen der Reagan-Jahre, dann deutlicher erkennbar in und durch Fox News. Allerdings geht es im vernetzten Zeitalter nicht um klassische Desinformation, sondern das, was Maria Bustillos von The Awl „Dismediation“ nennt. Genauer:

„Dismediation isn’t discourse. It doesn’t disinform, and it’s not quite propaganda, as that term has long been understood. Instead, dismediation seeks to break the systems of trust without which civilized society hasn’t got a chance. Disinformation, once it’s done telling its lie, is finished with you. Dismediation is looking to make you never really trust or believe a news story, ever again. Not on Fox, and not on NPR. It’s not that we can’t agree on what the facts are. It’s that we cannot agree on what counts as fact. The machinery of discourse is bricked. That’s why we can’t think together, talk together, or vote together.“

Wenn wir also in einer Welt leben, in der sich hinter jeder Tür eine andere mögliche Tür verbirgt, wie erkennt der Einzelne die „echte“ Welt? Sie liegt einzige in seiner Erfahrung, seinem Urteil und Vorurteil. Was allerdings angesichts dessen, das die meisten unserer Erfahrungen in „der Welt“ inzwischen virtualisiert sind (und die Erfahrungen der Menschen, mit denen wir interagieren, ebenfalls), nicht unbedingt ein Vorteil ist.

So lässt sich Donald Trump als Nutznießer und instinktiver Versteher dieser Verwirrung betrachten, der einfach doppelbödigen Botschaften (erst „Mexiko schickt uns Vergewaltiger“ dann „ich liebe die Hispanics“ etc.) oder Lügen in den Interpretationsraum wirft. Oder als ihr von Moskau gesteuerter Aktivator (ein Narrativ der Demokraten, vgl. „Marionetten“-Vorwurf). Oder nur als wissentlich-unwissende Figur auf einem magischen Theater vor dem Hintergrund eines ausbeuterischen „Systems“, das den Eliten nutzt nur seine Selbsterhaltung als Zweck kennt (eine Entwertung der Politik, wie sie auch in Trumps Vorwürfen an Clinton steckt, ein Eliten-Werkzeug zu sein).

Diese Systemlogik ist die letzte Stufe und mündet häufig in Verschwörungstheorien. Sie ist das ideologisch wichtigste Element der Dismediation, weil hier jeder als Vertreter oder unwissender Helfer eines „Systems“ klassifiziert werden kann. Eine Verschwörungstheorie alleine ist allerdings nicht ansatzweise so wirkmächtig wie das Chaos einer Realität, in der wir alle Wahrheitstheoretiker werden, weil die Realität nur noch in persönlichen Wahrscheinlichkeiten existiert. Und übrigens: Haben wir nicht wirklich der Eindruck, dass das globale „System“ zu einer Unwucht zwischen wenigen Nutznießern und vielen Getriebenen geführt hat?

Hier liegt glaube ich der Schlüssel zum Verständnis, was gerade passiert. Es bräuchte wahrscheinlich in diesem Stadium gar keinen Surkow mehr, der im Hintergrund die Strippen zieht. Dismediation führt zu Tribalisierung  und damit zu weiterer Dismediation. Jeder Mensch entscheidet selbst, hinter welcher Tür und in welchem Weltbild er sich eingerichtet hat.

Jeder Versuch, dieses Urteil zu verändern, kann in diesem Kontext nur scheitern. Außer durch das Menschliche: Persönliche Erfahrung, geweckte Emotion, Anteilnahme am „anderen“. Das gilt übrigens für alle Seiten, die Erzählung vom „wir gegen sie“ pflegen nicht nur Konservative. Das Resultat wäre so etwas wie eine provisorische Vernunft, die eine weitere Entmenschlichung verhindert, ohne die politischen Differenzen zu ignorieren. Nur aus dieser Position können wir die oben beschriebene Unwucht beseitigen, die für mich weiterhin einer der wichtigsten Nährböden für die Dismediation ist. Aber das ist meine Tür, hinter der ich das sage.

 

 

7 Gedanken zu „Russland-Notizen zur US-Wahl“

    […] Russland-Notizen zur US-Wahl […]

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    […] Ich bin kein Anhänger von Russland-Verschwörungen und sehe deshalb den Putin-Berater und ehemaligen Theatermenschen Wladislaw Surkow nicht als “Mastermind”. Aber seine Idee des “Theaters ideologischer Konfusion” ist weiterhin hilfreich, um das Leben in einer solchen Welt zu beschreiben. Am Tag vor der US-Wahl 2016 hatte ich das Thema einmal angerissen: […]

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