Als ich mit dem Fahrrad vorbeikomme, haben sie den Motor schon abgestellt. Der Wagen lief noch, als sie den Mann auf dem Beifahrersitz fanden. Kopfschuss durch das Seitenfenster. Der Mann kämpft im Krankenhaus um sein leben, hier dagegen läuft die übliche Routine ab. Ein Dutzend Polizisten und die Spurensicherung sind dort. Die Nachbarschaft steht in gedämpfter Stimmung vor ihren Häusern, ein kleines Mädchen weint. Auf der Lokalseite Nola.com steht schon ein Artikel, die Reporterin fragt die Anwohner, was sie gesehen haben. Sie ist noch keine 30. Polizeireporter sind die Einstiegsjobs hier, meist machen ihn junge weiße Frauen. Ihr Fotograf knipst für die Bildergalerie.
Man shot in head on Orleans Avenue: NOPD https://t.co/c7vTqwGEP4 @NOLAnews Van’s engine still running at scene pic.twitter.com/A4HkkakuVE
— Emily Lane (@emilymlane) 3. Januar 2017
„Die Generation dieses jungen Gentleman ist verloren“, höre ich eine ältere schwarze Lady sagen, die sich auf der Treppe vor dem Haus unterhält. Es ist nicht klar, ob sie das Opfer meint, jemand anderen oder den Täter. Wenn es Gang-Sachen sind, schweigen Zeugen oft aus Angst. Selbst Morde bleiben hier häufig unaufgeklärt, vor allem, wenn Afroamerikaner die Opfer sind. Die Polizei hat nicht genügend Beamte. Immerhin: Die durchschnittliche Wartezeit auf die Polizei nach einem Anruf bei 911 ist inzwischen von 88 Minuten auf 74 Minuten gesunken. Bei Notfällen von 19 auf 15 Minuten. „Vielleicht war es ein Shootout?“, fragt ein junger Weißer einen jungen Schwarzen. Im Jahr 2016 wurden in New Orleans 171 Menschen ermordet, die Zahl von Schießereien mit mindestens einem getroffenen Menschen ist mehr als doppelt so hoch.
Der Tatort liegt 650 Meter von unserer Adresse entfernt, doch Entfernungen sagen nichts aus in dieser Stadt. Jeder Block ist anders. Und nach Tageszeit. Diese Stadt verändert ihr Wesen, wenn es Nacht wird, und man überlegt sich genau, wohin man nachts sicher mit dem Fahrrad kommen kann und weiß, in welchen Vierteln man auch im Auto auf den großen Straßen bleiben sollte. Wenn Du weiß bist, ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel geringer, getötet zu werden. Ohnehin kennen sich Opfer und Täter meist. Aber Überfälle und Auto-Entführungen können dich zufällig erwischen, wenn du nicht gut aufpasst oder einfach Pech hast. Und natürlich entscheidet dein Gehirn nach Hautfarbe, wenn dir nachts in der Nachbarschaft ein oder mehrere Jungs entgegenkommen. Die Erkenntnis schmerzt, aber das ist so, auch wenn bei den Sachen <Mord der weiße Anteil sehr beachtlich ist.
Mit der Zeit gewöhnst du dich an solche Zustände. Angst spielt im Alltag keine Rolle, aber eine Gefühl der Vorsicht und Eingeschränktheit. Manchmal kommst Du an einem abgesperrten Tatort vorbei und fragst Dich, was schon wieder passiert ist. Ich lese noch manchmal in der „Crime“-Rubrik, was passiert. Du merkst, wie sich die einzelnen Stadtviertel entwickeln, wo wieder mehr passiert. Die Kriminalität lässt sich hier nicht ohne die hohe Schusswaffen-Quote und Drogensucht, aber auch nicht unabhängig von schwarzer Armut und menschenverachtender Einsperr-Praxis erklären. Das ist die Sache: Die meisten Menschen hier wollen einfach nur ein gutes Leben für sich und die Familie. Gesellschaft und Staat machen es den Schwarzen aber schwerer als den Weißen.
Gleichzeitig gibt es keine Entschuldigung für die Beiläufigkeit, mit der hier oft ein Leben ausgelöscht wird. Und nicht für die Brutalität, mit der das manchmal geschieht. (Achtung, drastisch) Was für ein Mensch ist dazu fähig, einem Vater in den Kopf zu schießen, während der seine dreijährige Tochter auf dem Arm hat und gerade mit Verwandten und Freunden grillt? Was für ein Perverser richtet ein junges Paar im Auto hin und tötet mit dabei das noch nicht geborene Kind, nur 14 Tage, bevor es auf die Welt gekommen wäre? Was ist das für eine Welt, in der ein kleiner Junge einen künstlichen Ausgang bekommt, weil er auf dem Rücksitz saß, als vorne im Auto der Körper seines Vater mit Kugeln durchlöchert wurde? Warum wird der junge Musiker, schon mit Vertrag als Produzent in Dallas ausgestattet und den Umzug vorbereitend, an einem sonnigen Sonntagnachmittag erschossen, während er alleine im Auto auf seine Freunde wartet? Zu viele Mütter haben hier ihre Söhne verloren, zu viele Söhne ihre Väter. Und viele dieser Verbrechen werden niemals aufgeklärt. Mörder leben in den Straßen dieser Stadt.
Und doch gibt es eben die andere Seite der „Inner City“. Die Lebensfreude, Gemeinschaftlichkeit, Hoffnung und Altersweisheit. Die Menschlichkeit. Aber ich frage mich, als ich den Tatort mit meinem Fahrrad hinter mir lasse: Wann, wann endlich kann die Menschlichkeit in New Orleans über Schmerz, Gewalt und Tod hinauswachsen und siegen?