Die aktuelle Leitkultur-Debatte ist eines dieser politischen Rituale des Social-Media-Zeitalters, bei dem es wenig Erkenntnisse, aber nur Gewinner gibt: De Maizière, weil er sich als Identitätskonservativer etabliert und ihm das hilft, sollte die CSU auf Joachim Hermann im nächsten Kabinett bestehen. CDU und CSU freuen sich über ein Thema, das für sie in Zeiten des Merkel’schen Polit-Pragmatismus (Managerialism) identitätsstiftend ist; die AfD kann de Maizières Thesen als Light-Version des Gebotenen darstellen. Das progressive Lager hat es ob der Flachheit der Innenminister-Ideen einfach, die ganze Debatte abzutun und einzelne Punkte als Beleg für die Banalität der Übung herauszugreifen. Dabei vermeidet es wie stets eine tiefere Diskussion über Standardisierungen des deutschen Selbstverständnises oder beschränkt sich darauf, auf das Grundgesetz zu verweisen.
Nein, das Grundgesetz genügt nicht – es mag einen organisatorischen Rahmen und Gesellschaft funktioniert nicht einfach als kulturelle Ableitung aus der Verfassung. Ich hätte hier in den USA vor der Einreise fünfmal die Verfassung lesen können und doch hätte ich keine Ahnung gehabt, wie das Land in der Praxis funktioniert. Und das, obwohl die Verfassung (oft mit Betonung der Bill of Rights) hier im Alltag deutlich präsenter ist.
Arno Orzessek hat darauf hingewiesen, dass der Begriff „Leitkultur“ selbst bereits eine tiefere Beschäftigung verhindert – er ist einfach totgeritten. Würde man zum Beispiel „gesellschaftliche Verständigung“ daraus machen, man könnte im doppelten Sinne den Ritualen entfliehen: Denen in der Debatte (die freilich gewollt und in die Nutzung des Leitkultur-Begriffs eingepreist sind) ebenso wie der Reduzierung auf Rituale wie „wir geben einander die Hand“. Andererseits hat „gesellschaftliche Verständigung“ natürlich nichts für jene zu bieten, die anhand bestimmter Leitkultur-Kriterien eine Art Bekenntnis erwirken wollen.
Eine Diskussion über die Praxis gesellschaftlicher Verständigung halte ich für sinnvoll und sie betrifft nicht nur Einwanderer aus anderen Kulturkreisen, sondern uns als individualisierte und stark in Mikro-Gruppen organisierte Gesamtgesellschaft. Zumindest, wenn wir wollen, dass unser Umgang miteinander nicht alleine durch die Grenzen des gesetzlichen Rahmens bestimmt wird. Dieser andere Rahmen des angemessenen Umgangs mit einander und der Welt ist allerdings schwer zu definieren – er wird ja immer wieder ausverhandelt, im Kleinen im Persönlichen, in Erfahrungen, Urteilen und dem Austausch über sie. Und oft geht es ja nicht um den Rahmen selbst, sondern darum, wie wir mit Übertretungen umgehen – also welche Abweichung wir ablehnen und welche wir zulassen im Bewusstsein, dass sich dadurch mittelfristig gesellschaftliche Vorstellungen verschieben können. Das gilt in den aktuellen Debatten um Fragen wie „Was sind die Maßstäbe für Rassismus?“ genauso wie für „Wann hört ein kulturell überkommenes Frauenbild auf, Privatsache zu sein?“
In diesem Zusammenhang Beispiel aus meiner fränkischen Heimat, das mit vergangenen Sommer erzählt wurde. In einem Dorf in unserer Gegend waren syrische Flüchtlinge in der Sporthalle untergebracht, man verstand sich gut und organisierte ein gemeinsames Fest am Feuerwehrhaus. Als bei besagtem Fest nun allerdings die „Gastgeber“ die Feuerwehr-Küche nicht benutzen wollten, ließen die männlichen „Gäste“ sie nicht herein. Der Grund lag darin, das dort drinnen gerade die Frauen Essen zubereiteten und Männer nicht erlaubt waren.
Solche Momente liegen ja hinter dem ganzen Leitkultur-Meme: Praktische Fragen, die über die emotionale Reaktion und das „wie reagiere ich?“ hinaus gehen. Geht mich das etwas an? Halte ich das für kulturell akzeptabel (also für eine unproblematische Abweichung)? Hoffe ich, dass sich das ändert und die die Küchentüre offen ist? Wenn ja, wann (fünf Jahre? 25 Jahre?) und wie wird das geschehen? Habe ich eine Pflicht, auf die gängigen kulturellen Normen und Sitten hinzuweisen (immerhin ist das ja die Gelegenheit dazu)? Und erzähle mir bitte niemand, dass er auf die Fragen innerhalb von wenigen Momenten eine Antwort hat.
(Wer möchte, kann noch die Beispiele „xenophob gefärbte Äußerungen im Freundeskreis“ oder, weniger kontrovers und für praxisnahe Pendler, „laute Handyvideos in öffentlichen Verkehrsmitteln gucken“, durchspielen)
De Maizière mag die gesellschaftliche Verständigung mit seinen Thesen in eine bestimmte Richtung verschieben wollen, aber auch ihm dürfte klar sein, dass dies nur Einfluss von vielen ist und wir von einem dezentralen Prozess sprechen (mit gutem Willen vorausgesetzt, dass es ihm wirklich als mehr als um Wahlkampf geht). Gesellschaft ist eine komplexe Angelegenheit, was sich am Beispiel Rechtsempfinden zeigt: Ich würde behaupten, dass in Deutschland die Toleranz für Bestechlichkeit gering ist. Schwarzarbeit hingegen ist verbreitet und wird im privaten Kreis bis zu einem gewissen Grad toleriert. Gesetzlich verboten ist beides, eines liegt jedoch innerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Abweichung, das andere nicht.
Über den Rahmen und die akzeptablen Gebiete jenseits seines Rands zu streiten, halte ich nicht nur für sinnvoll, sondern sogar für geboten. Denn auch ohne „Leitkultur“ als rhetorisches Werkzeug würde niemand behaupten, dass sich alles wie von Gotteshand einpendelt oder gar wollen, dass Gesetze alleine dieses Gebiet abstecken.