Wenn Dirk von Gehlen ein neues Buch schreibt, eröffnet sich für mich immer eine zweite Ebene: Auf welche von den Ideen, mit denen er in unseren Gesprächen um sich wirft, hat er sich am Ende gestürzt? Welche seiner Nebensätze finde ich plötzlich zu massiven Gedanken oder Thesen ausformuliert?
Das “Pragmatismus-Prinzip”, das am Freitag erschienen ist (und das mir Dirk netterweise schon vorher gegeben hat), ist aus dieser Perspektive eine Art dvg-Essenz: Ein Plädoyer für Gelassenheit im Umgang mit Neuem und Uneindeutigem, ein Lob der Ratlosigkeit als idealen Startpunkt für kreative Lösungsansätze. Zitat:
„In einer Welt unlösbarer Probleme ist nicht die Ratlosigkeit ein Problem. Ratlosigkeit versetzt uns vielmehr erst wieder in die Lage, andere Lösungsansätze überhaupt zu denken. (…) Wir haben in ganz, ganz vielen Bereichen keine Lösungen. Überforderung bestimmt unsere Lage. Die Herausforderung der Gegenwart scheint also nicht darin zu liegen, sofort Lösungen für die Überforderung zu finden, sondern sich pragmatisch auf sie einzulassen – die Überforderung zu akzeptieren ist die erste Voraussetzung dafür, sie zu bewältigen.“
Im Jahr 2017 kommentiert er damit natürlich die (zunehmende?) Hysterie und Rechthaberei in gesellschaftlichen Debatten und unsere Gefangenschaft in Ritualen und Haltungen (auch, aber nicht nur anlässlich der Digitalisierung); andererseits versucht er, diverse Business-School-Ideen aus Denkschulen rund um das Design Thinking in einen größeren Kontext einzubetten, dem er geschickt den Namen “Kulturpragmatismus” (als Gegenstück zum Kulturpessismismus) gibt. Am Ende lässt sich aber wahrscheinlich konkret im Kleinen – in der eigenen Wahrnehmung, Firma, Organisation, Lebensplanung – am meisten mitnehmen (wer mit Organisationspsychologie zu tun hat und sein Gehirn freigepustet hat, kann gleich danach Eric Ries’ “The Leader’s Guide” lesen).
Auf mich hatte Dirks Buch eine beruhigende Wirkung; es sind gelassene 200 Seiten mit popintellektueller Zielstrebigkeit statt akademischen Argumentationsketten, pragmatisch als Bricolage und nicht als Manifest gestaltet. Dass er dabei immer von “dem Shruggie” ( ¯\_(ツ)_/¯ ) spricht, der etwas gut findet oder entdeckt oder sagt, hat mich allerdings etwas kirre gemacht. UND JETZT ANTWORTE NICHT MIT EINEM SHRUGGIE, DIRK!
Okay, ich bin auch ein staubtrockener Typ, wenn es um solche Kunstgriffe geht.
Was das “Pragmatismus-Prinzip” nicht bietet, ist eine Antwort auf Fragen jenseits der Haltung zu Neuem oder ungewohnten, überfordernden Situationen. Viele entstehende Konflikte der “komplexen Gegenwart” sind nicht über Haltungsreflexion und Vermittlung alleine zu lösen; die propagierte “Neugier” kollidiert vielmehr mit handfesten Interessen der Beteiligen.
Natürlich können wir dabei Denkschablonen erkennen und auch Ängste reflektieren, aber wenn ich zum Beispiel als Politiker* den Klimawandel als dringendes (aber lösbares) Problem erkannt habe, muss ich trotzdem eine Abwägung treffen, in der ich mich zwischen Arbeitsplätzen/Schlüsselindustrien (kurzfristig) und dem langfristigen Ziel (geringerer Anstieg der Erderwärmung) entscheiden muss – und es mit verschiedenen Interessengruppen zu tun habe. Und wir kommen gerade in ökologischen Fragen an einen Punkt, wo wir angesichts starker Wechselwirkungen zur Kompromisslosigkeit angehalten sind, um die schwerwiegendsten Folgen zu verhindern. Doch das scheint mir nicht unbedingt der Weg des Pragmatismus-Prinzips.
Dirk mag mir da widersprechen und hat mit einem Podcast zu seinem Buch schon die Plattform für solche Praxis-Fragen. Und das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Typen: Er ist inzwischen ein “Gesamtwerk”, genauso Autor wie öffentlicher Nachdenker auf seinen diversen Kanälen. ༼ʘ̚ل͜ʘ̚༽ Ich behaupte mal: seine persönliche Anwendung des Shruggie-Prinzips hatte einen Anteil daran. Wahrscheinlich schon lange bevor der Shruggie überhaupt erfunden wurde.
* um im Rahmen des „Neuen“ zu bleiben, um das sich das Buch dreht: zum Beispiel anhand eines neuen Wetterphänomens über Deutschland.