„Die liberale Demokratie zerfällt gerade“
Der geschätzte Sebastian Gierke hat vergangene Woche auf @SZ ein Interview mit dem in Deutschland aufgewachsenen Yale-Politologen Yascha Mounk publiziert. Der legt den Finger in viele Wunden und bringt die Idee eines inklusiven/integrativen Nationalismus als Gegenentwurf zu einem fremdenfeindlichen Nationalismus ins Spiel. Er merkt dabei selbst an, dass der Nationalismus stets das Potenzial der Zerstörung in sich trägt.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Nationalismus per se verdammen. Das „Land“, um einen weniger stark besetzten Begriff als „Nation“ zu verwenden, kann als Referenzrahmen Gemeinsamkeiten herstellen, ohne gleich beim ethnischen Verständnis von „Volk“ zu landen. Die baltischen Staaten nach 1991 sind glaube ich ein gutes Beispiel für stabilisierenden Nationalismus, aber natürlich sind diese Länder vergleichsweise klein.
Was wären die Rahmenbedingungen für einen inklusiven Nationalismus? Für mich vielleicht ein gemeinsames Geschichtsverständnis, aber sicher die Perspektive des wachsenden Wohlstands. Die Idee bestimmter Werte, Sitten und Charaktereigenschaften der Bewohner. Auch das abstrakte Konzept, der Mythos eines Landes, kann als Scharnier wirken. Aber keines dieser Konzepte ist unkompliziert: Ein gemeinsames Geschichtsverständnis kann in der Praxis ein Mehrheitsverständnis sein, das die Bürger nach Rangfolgen der Zugehörigkeit einteilt, auch ethnisch (das ist ja ungefähr die AfD-Strategie hinter ihrem Geschichtsbegriff, binär auf „deutsch – nichtdeutsch unabhängig vom Pass“ reduziert). Und ein Mythos kann auch die Wendung zu einem expansiven Nationalismus begründen.
Über wachsenden Wohlstand und gemeinsame Werte reden wir derzeit weniger als über Abstiegsangst und darüber, wer diese Werte nicht verkörpert (wichtige Debatten, aber eher das Gegenteil von Mounks inklusivem Nationalismus). Errungenschaften wie das Sozial- und Gesundheitssystem machen dich wahrscheinlich konkret nur stolz, wenn du im Ausland mit ihrem Fehlen konfrontiert bist.
Kurz: Ich bin etwas ratlos, wo genau ein inklusiver Nationalismus gerade ansetzen könnte, außer dem üblichen Symbol Fußball-Nationalmannschaft, das wir ja ganz gerne überfrachten. Aber vielleicht fehlt mir auch die Fantasie oder ein Perspektivwechsel.
Nein, nein, nein … wir leben am Ende der Meta-Erzählung, da wird auch keine noch so wohlgemeinte Idee von „Land“ drüber hinweghelfen. Die Nation hat noch nie wirklich funktioniert, hat ihre Hochzeit nur mit dem Leid von Abermillionen erkauft. Höchste Zeit, dass den Platz zwischen Bundesland, Region, Kommune und Staatenbund findet, der ihr zusteht …
@Ben: Kannst du konkretisieren, was genau du unter „Ende der Meta-Erzählung“ verstehst? Dass der Nationalstaat nur unter Leid erkauft wurde… ich würde die Welt nach 1648 und dann nach dem (auf nationalstaatlicher Basis beginnenden) Epochenwechsel von 1789 (vgl. https://aeon.co/ideas/the-provocation-of-national-self-determination) durchaus der Welt vor dem 30-jährigen Krieg vorziehen. Ich weiß, dass das kein stichhaltiges Argument ist, aber hätte es Bedingungen für ein dezentrales, humanistisches System gegeben, die gemäß der menschlichen Natur und dem damaligen Entwicklungsstand realistisch gewesen wären?
Instinktiv würde ich auch sagen, dass man feudalistische Strukturen und Mechanismen der Unterdrückung auch, aber nicht nur aus der nationalstaatlichen Ordnung herleiten kann. Ob der Kolonialismus ohne Nationalstaaten ein anderer gewesen wäre, ist eine spannende Frage, ich kenne dazu keine Theorie. Womöglich müssten wir menschengeschichtlich beim Weizenanbau anfangen, wenn wir in eine andere, nicht-territoriale Richtung gehen wollten (mit „Against The Grain“ ist dazu auch ein Buch erschienen, das hier drüben in einigen Kreisen diskutiert wird).
Diese/r Kurzmitteilung wurde auf kopfzeiler.org erwähnt
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