Im Kampf um die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne des Lesers spielen Eyecatcher und steile Thesen eine immer größere Rolle. Differenzierungen schrecken ab, weil sie nicht zum Hinsehen, Kaufen oder Klicken locken (sowie Arbeitszeit und Manpower benötigen).
Dabei müsste es doch eigentlich genau andersherum sein: Wie David Weinberger bemerkt, dessen Buch “Everything is Miscellaneous“ demnächst in deutscher Sprache (Titel: “Das Ende der Schublade“) erscheint, leben wir in einer Zeit, in der wir uns auf Unschärfen einstellen müssen. Die binäre Welt des Computers hat die binäre Weltsicht des „richtig oder falsch“ zum großen Teil überflüssig gemacht. Das bedeutet, dass die einfache Schlagzeile selbst eigentlich an Wert verlieren müsste, weil sie nicht mehr der Komplexität unserer Welt (und der durch das Netz erreichbaren Informationen) gerecht wird. Als Korrektiv führt Weinberger die Blogosphäre an, die einfache Dinge wieder kompliziert macht und verschiedene Hintergründe zusammenführt.
Soweit, so gut. Aber sind inzwischen nicht alle Formen der „Online-Publizistik“ an die Aufmerksamkeitsökonomie der sekundenschnellen „Pointe“ gekettet, zumindest, wenn es sich um Short-Tailer handelt? „Ja, aber“-Journalismus klickt sich im Netz genauso schlecht wie „Ja, aber“-Blogs.
Notiert habe ich das hier im März 2008, also vor mehr als zehn Jahren. Heute, in der zweiten Hälfte des Social-Media-Zeitalters, wissen wir mehr – zum Beispiel, dass sich ein erstaunlicher Teil der digitalen Öffentlichkeit tatsächlich binär organisiert. Aber viel schlauer sind wir heute nicht.
(Fun fact: Anders als dieses Mal wird in zehn Jahren Journalismus etwas anderes meinen)
Ich dachte beim Lesen auch schon so „Hmm … das Buch ist doch schon ein paar Tage alt, hihi.“
Mich treibt in letzter Zeit auch ein Gedanke immer wieder um, den einer der Gründungsprofessoren der Uni-Bielefeld über die Gründung der Uni vor 50 Jahren gesagt hat: „Im Grunde können alle wirklich wichtigen Fragen und Probleme heute nur beantwortet und angegangen, wenn man interdisziplinär arbeitet.“ Der Gedanke war tatsächlich an vielen Stellen der Grundstein des Konzept der Universität. Unnötig zu erwähnen, dass das natürlich in den letzten 50 Jahren immer weiter zurückgebaut wurde, und die Fächer sich jetzt wieder spinnefeind sind. Nur da, wo das Versprechend von wirtschaftlichem Erfolg lockt, bleibt man weiter interdisziplinär (hier der Wechsel rüber zu Diskussion von gestern drüben in meinem Blog).
Da scheint es einen interessante parallele Bewegung zu geben: Komplexität mit Spezialisierung oder Vereinfachrung begegnen, oder Komplexität mit Verbreiterung und Aufmerksamkeit begegnen.
Am Ende haben glaube ich beide Strategien ihre Daseinsberechtigung. Das Problem, dass ich nur sehe … der zweite Weg wird immer seltener beschritten (auch von mir selber).