Das verrohte Land – ein Kommentar
„Die Durchkommerzialisierung aller Lebensbereiche, das Verschwinden öffentlicher Räume der Begegnung, die extreme Vereinzelung und eine Ideologie, die jegliches Leiden an den strukturellen Bedingungen als individuelles Problem und eigene Lebensentscheidung diskreditiert, ergeben zunehmenden Hass all jener, die nicht zu den Gewinnern der Verhältnisse gehören. Wachsender Konkurrenzdruck, Arbeitsverdichtung, Beschleunigung, Digitalisierung – all das produziert Verlierer, führt zu inneren Kündigungen und Burnout.“
Was Claudia Klinger drüben schreibt ist in Gänze lesenswert, auch wenn (hoffe ich) nicht alles entmitmenschlicht ist. In diesem Zusammenhang beschreibt die „Dynamik sozialer Entwertung“ ganz gut, was gerade passiert.
Natürlich lässt sich immer auf den deutschen Wohlstand verweisen, auf die materielle Sicherheit und die soziale Grundsicherung (in Deutschland sehe ich anders als hier nur wenige Leute ihr Bein nachziehen, weil sie sich nach einer Verletzung keinen Arzt leisten konnten). Aaaaaber: Genau dieser Relativismus wird viel zu oft von jenen, die noch eine bis viele Stufen über der akuten Abstiegs- und Entwertungsangst stehen, als Verteidigung des Status Quo angeführt. Ein Status Quo, der natürlich sehr bequem ist, auch für Progressive.
Was wir begreifen müssen: Komfort bedeutet noch nicht Teilhabe, Arbeit alleine garantiert noch keine Erfüllung oder ein sicheres Fundament (entgegen des bundesdeutschen Gründungsmythos), und Vernetzung ersetzt per se noch keine Community.
Damit will ich nicht AfD-Wähler, auf die diese Motivation zutrifft, aus der Verantwortung entlassen – spätestens nach einigen Monaten Bundestag muss jeder wissen, dass er nicht das Spektrum „nationalliberal bis nationalkonservativ“, sondern „nationalreaktionär bis protofaschistisch“ wählt. Aber wenn die Progressiven in Deutschland keine Antwort auf das von Claudia skizzierte Unbehagen finden und das in ein schlüssiges, ja radikales politisches und gesellschaftliches Programm gießen, dann werden sich die Sorgen über eine anbrechende Düsternis bewahrheiten.
Ich höre das in der Tat immer öfter, dass sich jetzt mal etwas zum Guten hin verändern muss, dass die Progressiven jetzt mal Antworten brauchen. Und ich denke dann jedes Mal: Ja, irgendwie besser wäre schon gut, aber wie denn bitte?!
> Wachsender Konkurrenzdruck, Arbeitsverdichtung, Beschleunigung, Digitalisierung – all das produziert Verlierer
Dasselbe kann man über die Industrialisierung sagen. Und trotzdem fahren heute alle Auto und fliegen zwei mal im Jahr in den Urlaub. Fortschritt produziert auch viele viele Gewinner!
@M. Hentschel: Ganz klar! Allerdings lässt sich nicht sagen, dass die Industrialisierung alleine für Komfort und Frieden in weiten Teilen Europas verantwortlich ist, das war auch die Kriegserfahrung.
@Ben: Auf der philosophischen Ebene sind wir natürlich bei der Frage, was die freiheitliche Gesellschaft als Ziel außer „Mehr Freiheit und allen soll es weniger schlecht gehen“ bieten kann. Das kommt hier ja häufiger zur Sprache, der Weg zwischen Jerusalem und Athen etc. https://www.kopfzeiler.org/westen-ohne-gott/
Um aber das einmal auszuklammern und konkreter zu werden:
(1) Erwerbsarbeit wieder an ihren Platz verweisen, und der ist außerhalb des Lebensmittelpunkts. Eine Vier-Tage-Woche wäre der Anfang, eine wissenschaftlich fundierte Grundeinkommensdiskussion die zweite.
(2) Demokratie aktualisieren – Volksentscheide bundesweit, Amtszeit-Begrenzungen, klarere Transparenzregeln, Stärkung der Bürgergesellschaft durch Konvente und beratende Bürgerversammlungen wie in Irland. Dazu gehört auch ein transnationaler Push gegen „There Is No Alternative“ und die politische Handlungslähmung, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht.
(3) Da ich mich gar nicht auf das Berufspolitische beschränken will, mit Progressiven meine ich ja alle, die diese Haltung haben: Strukturen, die für Begegnungen zwischen Menschen sorgen und die Funktionen des Vereinswesens ins 21. Jahrhundert überführen. Das ist beinahe das komplexeste, weil es der Gleichung „Arbeit senkt Zeitbudget immer weiter + Familie als Aufgabe + Individualisierte Freizeitgestaltung“ entgegenläuft. Andererseits wird hier auch schon am meisten gemacht, nicht zuletzt im sozialen Kontext, wo es eher um das Schließen von Versorgungslücken geht.
Das klingt vielleicht recht trivial, ich habe auch zum Beispiel das Thema Bildung ausgeklammert, weil das ja irgendwie adressiert wird. Aber ich glaube schon, dass das wir den Horizont für eine menschliche Erfahrung öffnen können, die aus „Lernen/erfahren – erschaffen – teilen“ (vgl. Albert Wenger: World After Capital) besteht.