deeds before words
Plain old untrendy troubles and emotions (2008)
Irgendwo in meinem Kopf – dort verstecken sich ja immer die besten Blogeinträge – befindet sich noch ein Entwurf für ein paar Fragen an die Gegenwart, mit deren Hilfe sich ein dringendes Bedürfnis nach einer Erneuerung formulieren lässt. Einer Erneuerung, die einen spirituellen Kern hat. Das klingt zunächst hippiesk, entspricht aber meiner Wahrnehmung.
Unsere Gefangenschaft in den Kleinigkeiten, die ständige Verwechslung des Gegenwärtigen mit dem Bedeutsamen, formieren sich zu einer Zeitdiagnose, individuell wie zivilisatorisch. Womöglich war das schon immer so, aber durch die Vernetztheit unserer Wahrnehmung erkennen wir in Umrissen, dass zu den Symptomen gegenwärtig auch ein ego-fixiertes Konzept von Empathie und ein Desinteresse an Nuancen gehört. Vielleicht werden wir irgendwann einmal herausfinden, ob und wie „Information Overflow“ oder die optimierte Denk-Bequemlichkeit einer hyperindividualisierten Gesellschaft das alles verstärkt haben.
Diese Woche ging hier ein Artikel rum, der zum Thema hatte, dass die gesundheitlichen Konsequenzen von Fettleibigkeit gar nicht so dramatisch sind und die Stigmatisierung übergewichtiger Menschen weit schlimmere gesundheitliche Folgen für sie hat. Freddie de Boer hat darauf eine interessante Antwort formuliert: In Social Media gab es viel Zustimmung zu besagtem Text, aber wer unter den Applaudierenden würde das Bekenntnis zur „Body Positivity“ damit unterfüttern, künftig nicht mehr auf seine eigene Figur zu achten und quasi solidarisch zuzunehmen, um die Stigmatisierung zu bekämpfen – also mit echter Verhaltensänderung? Wahrscheinlicher sei, dass die Begeisterten gleich nach dem Applaus-Tweet aufs Laufband steigen und danach einen Low-Carb-Snack essen. Body Positivity ist eben immer für die anderen. Was er meint:
„Es geht nicht darum, den Kampf gegen die Stigmatisierung der Fettleibigen zu beenden. Wir müssen kämpfen, um moralisch zu sein. (…) Der Punkt ist zu erkennen, dass das wirkliche persönliche Verhalten der lautesten Kritiker des Fat-Shamings signalisiert, dass diese Aufgabe viel, viel schwerer als angenommen ist. Und wenn die Aufgabe hart sein und lang dauern wird, wäre es klüger, keine Strategie einzusetzen, die auf der Grundlage basiert, dass es leicht und schnell geht. Ich meine damit die billigen Kicks des selbstgerechten Tweets. Wenn die Arbeit lang und hart sein wird, wäre es viel besser, subtil zu sein, verständig, ruhig, maßvoll. Um das Stigma gegen Übergewichtigkeit zu beenden, so scheint es mir, braucht es Erwachsene, die viele kleine Entscheidungen darüber treffen, wie sie sprechen, denken und handeln – und nichts davon wird das Lob ihrer Peer-Group hervorrufen… anders als besagte Tweets eben. Irgendwann haben die Leute, die unsere Kultur schreiben, sich selbst eingeredet, dass ärgerlich im Internet zu sein ein Mittel der Veränderung ist. Aber es ist nicht einmal ein Mittel, sie selbst zu ändern.“
Was Freddie de Boer schreibt, legt natürlich nicht nur den Mechanismus hinter Meinungsbekundungen zu diesem speziellen Thema offen. Seine Worte speisen sich aus seiner Erfahrung als Aktivist für faire Wohnbedingungen und aus der Tatsache, dass er selber einmal Teil der progressiven US-Twitterati war. Veränderung dauert lange und findet unter komplexen Einflüssen statt; wir sollten nicht erwarten, mit der Summe kommentierender Meinungsäußerungen das gleiche Ergebnis wie mit substanzieller Arbeit zu erreichen.
In diesem Zusammenhang denke ich in letzter Zeit manchmal an David Foster Wallace und seine Rede vor Uni-Absolventen aus dem Jahr 2005 (deutsch: „Das hier ist Wasser“). DFW zu zitieren ist natürlich selbst ein Klischee geworden, aber es ist die vielleicht beste Meditation über die Umrisse eines richtigen Lebens im falschen, die das 21. Jahrhundert hervorgebracht hat.
„Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag. Das ist echte Freiheit. Die Alternative ist die Gedankenlosigkeit, die Standardeinstellung, die Tretmühle – das ständige Nagen, etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben.“
Was DFW skizziert, sind Wegmarken zur Bewusstheit, und von dort zu täglichem Handeln. So gut es geht, und so konsequent, wie es unsere Menschenpflicht vorgibt. Ich glaube nicht, dass unsere kollektive und vernetzte Echtzeit-Erfahrung der Welt diese Wegmarken zerstört, aber sie lenkt unseren Blick ab, und das in alle möglichen Richtungen. Wenn ich meinem Wunsch nach spiritueller Erneuerung einen Rahmen geben müsste, würde ich ihn deshalb über diesen drei Worten aufspannen: Bewusstheit statt Aufmerksamkeit.
(Übersetzung via)
Manchmal gibt es Texte, die sind abgrundtief gut. Das ist so einer. Ich habe Lust, ihn nochmal und nochmal zu lesen. Er berührt. Er so komprimiert. Er entzündet Gedanken. Er tut gut. Schön!
@Karneol – Vielen Dank für das herzliche Lob (jetzt würde sich das nochmalige Lesen vielleicht sogar lohnen, zumindest habe ich ein paar Fehler ausgebessert).
Dein Blog ist mit Abstand das spannendste der Journalismus-Branche. Danke dafür!
Wow, vielen Dank für das Lob! (befürchte aber, dass das für die Journalismus-Branche nichts Gutes bedeuten würde…)