Im Rückspiegel verschwindet die Golden Spike, jener Ort, an dem 1869 die Eisenbahnen aus Osten und Westen erstmals verbunden wurden – ein Moment, der jetzt mehrmals täglich für Touristen nachgestellt wird. Bald schon lassen wir Rattern und Dampf der Loks hinter uns, vor uns nur noch trockene Felsen und eine Menge Staub. Hinter einer Kurve steigt ebenfalls Rauch auf, wenn auch in unregelmäßige Intervallen. Kein Feuer wie sich herausstellt, sondern zwei junge Typen, die mit ihrer AR-15 in die öde Landschaft ballern. Was man so macht an einem heißen Samstagmorgen in Utah.
Der Weg zur Spiral Jetty führt in gewisser Weise über meine Vorstellungskraft hinaus. Vor etlichen Jahren – ich weiß nicht mehr, ob ich Teenager oder schon Student war – hatte ich Fotos von ihr in einem Kunstbuch gesehen. Es muss sich um eine Aufnahme aus der Video-Dokumentation gehandelt haben, denn Schöpfer Robert Smithson ist in meiner Erinnerung von oben zu sehen und springt mit fettem Grinsen auf den Steinen herum. Die Idee, aus Basalt eine geometrische Form irgendwo in einem gottverlassenen See aufzuschütten, sprengte mein Kunstverständnis. Land Art. Alleine der Name klang nach Größenwahn. Und wo sollte ich dieses “Land” verorten, das da zu sehen war? Hätte Smithson sein Werk auf dem Mars platziert, es hätte mir nicht weiter entfernt vorkommen können.
Der Weg zur Spiral Jetty führt zum Großen Salzsee, vor allem aber – wie fast alle Wege in Utah – weg von der Zivilisation. Und auf einen Privatpfad, für den das Auto nicht gemacht ist. Was allerdings an Google Maps liegt. Kein Bewohner des amerikanischen Westens vertraut auf Online-Karten. Wege werden je nach Jahreszeit zu Schlammfallen oder Flüssen, Abkürzungen führen ins Nichts und haben schon manchen desorientierten Autofahrer in der Wüste das Leben gekostet. In unserem Fall kostet der Umweg nur Nerven. Dornbüsche bohren sich in den Lack der Seitentüren und machen fiese Kratzgeräusche. Ein gewagtes Wendemanöver später sind wir zurück auf der Hauptstraße, zwei Tierkadaver und einige Meilen weiter am Rand des Salzsees angelangt.
Als Smithson 1970 die Spirale aufschüttete, war es radikaler Protest (finanziert von einer Milliarden-Erbin freilich). Gegen die drückende Enge des Ateliers, das Museale der bildenden Kunst und den Massenkonsum der Pop Art. Land Art gehört niemandem und damit allen, keiner kann mit ihr Handel treiben. “Die Spirale ist ein spiritualisierter Kreis”, heißt es in Nabokovs Autobiografie. In Smithsons Fall ist sie eine Form, die in geologischen und klimatischen Prozesse der Jahrtausende lebt. “Eine blanke Präsenz, gleichgültig gegenüber dem Wasser, dem sie ausgesetzt ist“, wie einmal die New York Times schrieb. 1970 war auch der erste Earth Day.
Gut zwei Jahrzehnte war die Spirale unter der Wasseroberfläche des Sees verschwunden. Seitdem der Westen 2010 in eine “Mega-Trockenheit” eintrat, ist wiederum das Wasser verschwunden. Steine inmitten von Salzkristallen. Wir müssen nicht auf dem Basalt balancieren, um zum Ende der Spirale zu gelangen, der Weg ist ein Spaziergang am Salzstrand. In der Ferne, sicherlich anderthalb, zwei Kilometer weg, leuchtet rötlich der ständig schrumpfende See. Am Horizont flirrend die Berge. Eine Mondlandschaft mit biblischer Note, passend zu den klimatischen Endzeiten, in denen wir uns bewegen. Moses spaltete das Rote Meer. Aber was, wenn das Meer nicht zurückkehrt?
Smithsons Kinderarzt und Bekannter war, wie der New Yorker einmal notiert hat, der Poet William Carlos Williams. “Keine Ideen, sondern in Dingen” (Paterson). Während wir uns auf den Rückweg machen, verfolgt von Tausenden Fliegen, die sich im Herbst rasend an das Leben klammern, geht mir dieser Satz aus der New York Times nicht mehr aus dem Kopf, den ich am Vorabend gelesen hatte. Nachdem Smithson 1973 in einem Flugzeug tödlich verunglückt war, als er gerade ein neues Land-Objekt im Norden von Texas suchte, würdigte Peter Schjeldahl dessen Arbeit mit einem monumentalen Satz: “Er schuf Fantasien, so echt wie Berge.”
Beide Fotos CC BY-SA, Johannes Kuhn.