Andre Kenji de Sousa lebt in Itatiba (São Paulo), seine Zusammenfassung des „Bolsonaro-Phänomens“ ist sehr hilfreich (ohnehin ist Ordinary-Times, wo das Stück läuft, derzeit eine meiner Lieblingsseiten). Dabei geht es auch um „Männlichkeit“ als Faktor:
„Es geht ein Reiz von einer bestimmten Art Männlichkeit aus. Sie mag unglaublich falsch und eine besonders unsichere Männlichkeit sein, aber sie findet Anklang. Kein Wunder, dass [Bolsonaro] die ganze Zeit über Waffen redet. Selbst der körperlich schwächste Mann im Universum kann sich mit einer Waffe mächtig fühlen. Das ähnelt dem Reiz der Männlichkeit, den Donald Trump propagiert.
In den meisten Ländern machen Männer ungefähr die Hälfte der Wähler aus. Und in vielen Ländern sind die meisten dieser Männer weiß oder Menschen, die sich als weiß definieren. Du kannst keine Wahlen gewinnen, wenn du die Hälfte der Wählerschaft verlierst. In der #MeToo-Ära ist das etwas, was viele Leute auf der Linken und unter den Liberalen nicht verstehen. (…)
Einer der Gründe, warum Männer von Schwindlern wie Bolsonaro, Trump oder einem mittelalten kanadischen Psychologie-Professor mit Hang zu Plattitüden angezogen sind, ist weil unter den Progressiven niemand versucht, sie zu erreichen. Du musst dich nicht wie ein MRA-Typ [Men Rights Activist] anhören, um Männer zu erreichen. Aber du musst einen Anreiz für diese Hälfte der Wähler bieten (besonders, weil die andere Hälfte nicht für Kandidaten/innen stimmen wird, nur weil sie Frauen sind oder eine feministische Botschaft haben.“
Dieser ganze „Men-Rights-Komplex“ ist in Deutschland meines Eindrucks nach trotz größerer Online-Präsenz eher Randphänomen, so wie Männer in Deutschland eine sehr großes Spektrum an Selbstbildern wählen können, ohne sich völlig alleine fühlen zu müssen – in den meisten Milieus zumindest. In Ländern wie den USA (ein guter Dokufilm dazu ist „The Mask You Live In“) oder offensichtlich auch Brasilien dagegen ist das Männlichkeitsbild sehr viel enger definiert. Andererseits haben wir in Deutschland Gegenden, in denen ein Frauen-Exodus stattgefunden hat, was wiederum zu unguten Kulturveränderungen führt.
Paradoxerweise macht die deutsche Situation den nächsten Schritt der Gleichberechtigung einfacher und schwerer zugleich: Einfacher, weil ein Bewusstsein besteht. Schwerer, weil dieses Bewusstsein bereits Gleichberechtigung impliziert, obwohl es sich de facto erst einmal nur um eine größere Ausdifferenzierung von (männlichen) Geschlechterrollen handelt.
Gut möglich, dass der nächste Schritt mit den inhärenten Machtfragen und Demografie-Faktoren zu einem Kulturkampf-Backlash führen. Das ätzende (und ins Rassistische neigende) Meme über die ‚alten weißen Männer‘ liefert ja schon schöne Opfererzählungs-Vorlagen. Aber irgendwie scheint mir Macho-Kandidatentum in Deutschland schwer vorstellbar und berufliche Chancengleichheit der Geschlechter eines der wenigen Felder, wo der Erhalt des Status Quo mal nicht das bundesrepublikanische Ziel ist (wenn wir auch leider vorwiegend von Berufen mit Hochschul-Abschluss reden). Das heißt natürlich nicht, um auf Bolsonaro und den globalen Aspekt der politischen Rechten zurückzukommen, dass Männlichkeit nicht direkt und indirekt mit einer Reihe von Ängsten und Identitätsschablonen verknüpft wird. Gerade in der Einwanderungsdebatte passiert das ja schon weit über das berechtigte „Frauenfeindlichkeit passt nicht in unsere Kultur“ hinaus.
Siehe auch:
Brasilien, Bolsonaro
Jens Jessen und der #MeToo-Moment
„wo das Stück läuft“?
@Paul: Teil der TV-Grammatik, die in die Online-Publizistik Einzug hält („laufen“, „abspielen“ etc.).