Bruno Latour, the Post-Truth Philosopher, Mounts a Defense of Science
Mit sehr großem Interesse am vergangenen Wochenende gelesen: Die NYT über Bruno Latour und sein Verhältnis zur Wissenschaft (er tourt gerade zum Thema Anthropozän durch die USA).
„Weil die Angriffe auf ihre Expertise zugenommen haben, haben laut Latour einige Wissenschaftler begriffen, dass die klassische Herangehensweise der Wissenschaft – die Annahme, dass die Fakten für sich selbst sprechen und deshalb von allen Bürgern gleich interpretiert werden – ‚ihnen nicht ihre alte Autorität zurückgibt.‘ In einem Interview vergangenes Jahr beschrieb Rush Holt Jr., ein Arzt der 16 Jahre Abgeordneter im Kongress war, den ‚March for Science‘ als Wendepunkt. Die Leute, sagte er, würden langsam verstehen, ‚dass sie die Bedingungen verteidigen müssen, unter denen Wissenschaft gedeihen kann.‘ (…)
Latour ist der Ansicht: Wenn Wissenschaftler transparent erklären würden, wie Wissenschaft wirklich funktioniert – als Prozess in dem Menschen, Politik, Institutionen, Peer Review und so weiter alle ihre Rolle spielen -, wären sie in einer besseren Position, um die Menschen von ihren Behauptungen zu überzeugen. Klimaforscher, sagt er, müssten erkennen, dass sie als designierte Repräsentanten der Natur schon immer politische Akteure waren, und dass sie nun Kombattanten in einem Krieg sind, dessen Auskunft planetarische Auswirkungen hat.“
Ich konnte erfreulicherweise danach mit einem Fachmenschen darüber sprechen, der mir in der Tat erzählt hat, dass die Klimawandelfolgen-Vermittlung inzwischen eine immer größere Rolle im Fach spielt (und Interdisziplinarität weiterhin ein Problem ist, was im Text auch angerissen wird). Das oben Zitierte wirkt auf zwei Arten zunächst fremd: Einmal, weil Naturwissenschaften durch ihre Exaktheit die Vermittlung ja eher auf Versuchsanordnung und Konsequenzen der Ergebnisse beziehen als auf „so entsteht Wissen in sozialen Prozessen“. Wenn sie diese sozialen Prozesse überhaupt als relevant anerkennen. Und auch der Rollenwechsel von Mittelsmann/Mittelsfrau zum Akteur erscheint ungewohnt, aber angesichts des Endes des Mittelsmenschen im vernetzten Zeitalter dann doch irgendwie… unausweichlich.
Aber dann ist natürlich die Naivität, die gerade der zweite Absatz in sich trägt: Transparenz erscheint mir moralisch geboten, aber ist sie in diesem Fall – wir reden von einer Welt, in der Zweifel und Schaffung von Unübersichtlichkeit zum Fakten-Derailing genügen – mehr als eine idealistische Übung? Dabei meine ich nicht nur die Vermeidung von Komplexität, die solche Vermittlungen schwierig macht, sondern auch die Vermeidung von Verantwortung, die einen nicht geringen Teil der Klimawandel-Leugner antreibt. Vor dem Problem des „kollektiven Handelns“ kommt das Problem der „Interpretation zugunsten von Untätigkeit“. Was nichts daran ändert, dass wir neue Vermittlungen der Klimawandel-Erkenntnisse und vor allem der Folgen dringend benötigen, alleine schon zwecks des Handlungsdrucks. Der letzte Weltklimarat-Bericht war in dieser Hinsicht auch bereits deutlich weniger zurückhaltend.
Siehe auch:
Menschengemacht
Dunkler
Wärme über dem Permafrost
Im Klimawandel (2016)
Screenshot: John Quigley: Melting Vitruvian Man (2011), aus: Exploring the Arctic Ocean, Visual Arts Center, UT Austin
Ich sehe hier einen Effekt des demokratisierten Wissensmanagement, der wohl mit „Grundsätzlich ist alles und jeder zu hinterfragen“ beschrieben werden kann. Erstmal nichts Schlechtes.
Wissenschaftler arbeiten auf der Ebene des Faktischen, des Nachprüfbaren. In ihrer kohärenten Kommunikationswelt (Formeln, Experimente, Fachtermini usw) ist das auch alles passabel miteinander verbunden. Doch es fehlt nicht selten ein Kontaktpunkt nach außen. Schwierig, denn der muss einerseits niedrigschwellig, andererseits hinreichend umfassend und komplex sein.
Fakt ist: Wenn die Wissenschaft sich nicht um die Vermittlung ihrer Erkenntnisse kümmert, werden es andere tun. Deren Grundlage ist aber nicht notwendigerweise das Faktische sondern kann politisch interessengeleitet sein und in eine ganz andere Richtung gehen: »Wenn Du sie nicht überzeugen kannst, verwirre sie!«.
Letztlich verliert die allgemeine Erkenntnisfähigkeit aller Menschen, was zu Stagnation führt, obschon uns das Wasser Oberkante Unterlippe steht. Nicht die Wahrheit hat dann verloren, sondern der Kommunikationsprozess um sie herum.
@Libralop: Danke für die hilfreiche Struktur, die in dem Beitrag steckt!
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