Es war nicht nur der 11. September 2001, der eine Veränderung im Wesen des Terrorismus markierte, sondern vor allem die Zeit danach: Natürlich brachte 9/11 den Islamismus auf die globale Bühne und hinterließ seine Spuren im Bewusstsein der Weltbevölkerung. Es waren aber die Jahre darauf, in denen sich der islamistische Terrorismus zur Franchise-Operation entwickelte. Al-Qaida als Organisation wurde zahlenmäßig dezimiert, als Konzept reüssierte die Gruppe jedoch in vielen Teilen der islamischen Welt. Terrorismus organisierte sich in einer digital vernetzten Welt zunehmend entlang einer Idee, die direkte Verbindung zu einer wie auch immer gearteten “Gruppe” im Sinne von “zählbar, konkret, abgrenzbar”, trat in den Hintergrund.
Der Wandel lässt sich auch daran erkennen wie sich unsere Vorstellung eines Schläfers erweitert hat: Ursprünglich meinten wir damit einen Terroristen, der Instruktionen erhält und dann zunächst ins “normale Leben” untertaucht, um dann irgendwann zu morden. Im Kontext des Islamismus verstehen wir darunter heute auch Selbstradikalisierer, die losen Kontakt zu Terror-Organisationen gefunden haben oder, inzwischen, sich schlicht kurz vor der Tat in einer Video-Botschaft zum “Islamischen Staat” bekennen – unabhängig, ob sie je mit einem Mitglied Kontakt hatten (zumal “Mitgliedschaft”, siehe oben, der fluiden Gruppierung hinter einer “Idee” nicht gerecht wird). Manchmal nimmt der “IS” nach Terrorakten Täter auch als Mitglieder in Anspruch, indem er sich zu einem Anschlag bekennt. Wir haben uns derart daran gewöhnt, dass islamistischer Terror entlang einer “Idee” funktioniert, dass solche Bekenntnisse oft nur eine Fußnote sind.
Auch der Neonazi-Terrorismus, den wir in Halle gesehen haben, orientiert sich an einer Idee, nicht an einer Gruppe. Meine Verwendung von “Neonazi” beschreibt die Ideologie zwar konkret, aber eben nicht im bisherigen Sinne der “Wiederkehr”, sondern “Neo” im Sinne von einer neuen Form des Nazismus. Die begriffliche Unschärfe ist kein Zufall: Dieser Terror-“Franchise” hat bislang keinen Namen, obwohl Gemeinsamkeiten (Täterprofil, Opfer, Elemente wie Streaming oder Manifeste) und gegenseitige Referenzen auf vergangene Taten der (bislang männlichen, weißen) Terroristen relativ klar erkennbar sind. Doch nicht nur der Name fehlt, auch die Ränder der “Idee”, auf die er sich bezieht, werden (anders als im Islamismus) fluide – weil die Kommunikation vollständig digital, durch Memes und (oft zynische, in der Regel Geschmacks- und/oder Sagbarkeitsgrenzen überschreitende) Uneigentlichkeit stattfindet. Und weil die ideologischen Anknüpfungspunkte von MGTOW über Minderheitenhass bis zur QAnon-Weltverschwörung reichen.
Es handelt sich also um ein ideologisches Menü á la carte: Eine Fantasie über einen Massenmord als zynischer Spaß. Als kalkulierter Bruch eines Tabus in einer Peer-Group, die Tabus verachtet. Oder eben als Tat.
Fluide im Wesen und damit der Interpretationsmaschinerie ausweichend*, in der Regel anonym und horizontal: So werden sich im 21. Jahrhundert wohl viele Bewegungen gruppieren. Der Nihilismus der oben skizzierten „Idee“ kann allerdings kein politisches Projekt verwirklichen; wohl aber destruktive Akte, die die “Idee” bekannter machen oder politische Reaktionen herbeiführen. Letztlich handelt es sich also, wie im digitalen Zeitalter auch beim Islamismus, um das Äquivalent eines (Computer-)Virus.
* Diese “Interpretationsmaschinerie” meint hier nicht nur die Öffentlichkeit oder Medien, sondern im Falle von Straftaten auch Ermittler. In einer Welt der Uneigentlichkeit und vieldeutigen Signale läuft ein präventiver Scan nach möglichen Tatplänen entweder ins Leere oder produziert lauter false positives, wahrscheinlich sogar bei flächendeckender Dauerüberwachung.
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