Ein Europa ohne sozialdemokratische Parteien erscheint seit gestern Abend möglich. So wie 2017 eine neue linke Sozialdemokratie mittelfristig auf dem Weg zur Macht schien. Beides ist wohl etwas überdimensioniert; aber wer verfolgt hat, wie stark sich europäische linke Parteien an Corbyn und seiner Mobilisierung orientiert und aufgerichtet haben, der kann das Wahlergebnis für dieses politische Lager wohl mit dem Einschlag der Trump-Wahl in den USA vergleichen.
Natürlich gibt es weiterhin diese Idee, die schon länger rumschwirrt: Dass Boris Johnson jetzt per Dirigismus oder einfach Sozialsystem-Ausbau der politischen Linken völlig die Existenzgrundlage nimmt. Dieses Szenario halte ich in der weiteren Entwicklung der politischen Rechten gar nicht für unwahrscheinlich, aber in Großbritannien glaube ich nicht daran, dass ein konservativer Premier seine Klasse verraten wird. Eher im Gegenteil. Ich glaube, meine Prognose aus dem vergangenen Jahr ist weiterhin realistisch:
„Ich denke, Großbritannien und die USA werden der Block sein, der die neoliberale Demontage des Verwaltungsstaats und die Privatisierung weiterer staatlicher Aufgaben im Sinne kommerzieller Interessen auch im 21. Jahrhundert durchzieht.“
Der vielleicht größte Erfolg Johnsons: Trotz fast zehn Jahren an der Macht und völlig anderen politischen Zielen haben die Tories auch die heftige antihegemoniale Strömung der Älteren im Land kanalisiert, natürlich begünstigt durch die Enthaltung der Brexit-Party. Und diese Kanalisierung wird nicht das Ende sein, sondern sie markiert einen Anfang. Buckle Up, Buckaroo.
Links zur Wahlanalyse (werden weiter ergänzt):
The Lessons of Jeremy Corbyn’s Defeat
The Strange Death of Social-Democratic England
Johnson Gets His Mandate
Harold Macmillan, Roger Scruton, and Putting the U.K. Election in Context
Großbritannien nach der Wahl: Das Ende des Vereinigten Königreichs?