Es gibt zwei Theorien über Social Media, die von denkerischer Faulheit gekennzeichnet sind: Man kann das Ganze als Spiel um Status betrachten, in dem Nutzer Meinung und Witz nutzen, um Teil einer Gruppe zu werden und in ihrer Hierarchie aufzusteigen oder sie zu festigen. Eine andere Perspektive ist die eines Ausgeliefertseins der Massen an die Algorithmen und Wirtschaftsinteressen der großen Tech-Firmen.
Beiden Theorien ist gemein, dass sie letztlich den Einzelnen keine große Macht über das eigene Verhalten zubilligen. Entsprechend liegt die Lösung für beide in der Software: Gemäßigtere Algorithmen, weniger Dark Patterns etc.
Max Read verweist in seiner Rezension darauf, dass Richard Seymour mit “The Twittering Machine” eine andere Sichtweise vertritt: Twitter und Co sind Instrumente für kollektives obsessives Schreiben (Schreiben heißt hier auch: Datenbankspuren hinterlassen, z.B. durch Likes). Der Bedarf dafür ist überbordend, aber nicht nur dem Wunsch nach Überwindung von Gatekeepern geschuldet. Vielmehr stiftet das Publizieren Sinn. Wir sind also Co-Piloten, keine “Opfer”.
Selbstvergessenheit im Diskurs
Das festzuhalten, ist glaube ich wichtig. Social Media ist eine Beschäftigung, eine durchaus konsumorientiert meditative Beschäftigung sogar: in dem Sinne, wie das ziellose Surfen im Netz oder die “Maschinenzone” beim Automaten-Glücksspiel meditativ sind. Halbautomatisierte Handlungen rund um Informationsverarbeitung, die uns vergessen lassen, was um uns herum passiert. Seymour, als Linker an Freud geschult, spricht etwas pathetisch sogar vom Wunsch nach Selbstauflösung, dem Todestrieb.
Und wir wollen das. Darauf weist Seymour explizit hin. Wir wollen unsere Zeit so verbringen. Max Read nennt es “Selbstvergessenheit im Diskurs”. Wir finden Gefallen an Diskussionen, die sich im Kreis drehen. Bissig schreibt er: “Wenn Zeit eine endlose Ressource ist, warum sollten wir nicht mal ein paar Jahrzehnte damit verbringen, gemeinsam mit ein paar New-York-Times-Kolumnisten die westliche Ideenwelt auf der Basis erster Prinzipien neu aufzubauen?”
Aber Zeit ist nicht endlos. Angesichts sich aneinander reihender Krisen ist sie sogar knapp. Wir haben keine Zeit, uns mit “bedeutungslosen Stimuli besprühen zu lassen”, wie Read anmerkt. Wir haben keine Zeit, um der Selbstvergessenheit willen im Zirkel-Diskurs mit denjenigen zu rotieren, die unsere Zeit verschwenden.
Und auch wenn dieses Argument angreifbar ist: Es ist ein durch und durch politisches Argument gegen Social Media.
Siehe auch:
Datenbank-Dynamiken
Borges und ich (und Social Media)
Komplexität und Content (a.k.a freie Tage und Basare)
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