Mein Blog ist mein Notizblock. Auch als Newsletter erhältlich (erscheint unregelmäßig, wenn ein paar Notizen zusammengekommen sind).
Der Stand der Dinge
(1) Wenn ich mir Reportagen und Berichte aus dem ersten Lockdown ansehe, stoße ich immer wieder auf einen Wunsch, den viele Menschen damals hatten: Dass Corona ein Anlass dafür sein könnte, unsere Art zu leben zu überdenken, weil es „ja so wie in den vergangenen Jahren nicht weiter gehen konnte“. Solche Träume hat wahrscheinlich niemand mehr, der Wunsch nach Normalität hat diesen Hauch von Utopie verdrängt. Die ewige Gegenwart, die in der Pandemie als Gefängnis oder Kokon fungieren kann, sie wird nicht verschwinden. Und anders als in Ländern mit jüngerer Altersstruktur ist sie in Deutschland auch kein Corona-Phänomen.
(2) Der Coronakrisen-Satz „Anderen geht es noch schlechter“ ist wahr, im Alltag allerdings ein Pseudo-Trost. Oder ein argumentatives Werkzeug, um über Social Media Vorträge über den Ernst der Situation zu halten. Ich wundere mich nicht über die dortige Zurschaustellung der eigenen Hyper-Ernsthaftigkeit bei gleichzeitiger Bereitschaft, Abweichungen als Charakterschwäche oder gar grundsätzliche Verfasstheit unserer Gesellschaft zu brandmarken. Ich wundere mich nicht, finde es aber abstoßend. Freddie deBoer hat das so formuliert:
„This creature feeds on the unprecedented opportunity to lecture. It looks out and all it sees are people who are not as serious as it is, not as careful as it is, not as dedicated to protecting every life as it is. We have all failed in its eyes. I will call it, I guess, the Covid realist, for that is surely how they see themselves.“
Eine Pandemie ist kein Wettbewerb, aber die gamifizierte Status-Welt von Social Media macht sie dazu.
(3) „Föderales Durcheinander“ trägt dieser Meinungsartikel als Titel. Ich habe die Intensität der Debatte über Einheitlichkeit der Corona-Maßnahmen nie wirklich verstanden. Natürlich wäre es schön rechtwinklig, wenn Mecklenburg-Vorpommern und Bayern die gleichen Vorschriften hätten. Aber wäre es auch der regional unterschiedlichen Situation gerecht geworden? Die deutsche Sehnsucht nach Zentralismus würde sich sicher abkühlen, wenn wir mal über die Grenze nach Frankreich blicken würden, aber das ist ja jenseits des Gartenzauns. Vielleicht genügt auch ein Blick in unsere Geschichte, dass als Korrektiv gegen jene geforderten „Durchgriffsrechte“ (gerade in Situationen nahe am Ausnahmezustand) dieser Föderalismus sogar dringend notwendig ist. Oder ein Blick in die USA.
Für mich ist diese Debatte nicht nur, aber auch abgeleitet aus dem Wunsch, in der Krise politische Haltungsnoten zu vergeben statt komplexe Situationen zu analysieren. Dabei nehme ich die Corona-Maßnahmen vor allem als Praxisthema wahr: Nicht die föderal getroffene Entscheidung ist relevant, sondern die Struktur dahinter, die diese dann umsetzt.
Biosicherheit
Die Welt ist zur Intensivtierhaltung geworden, schreibt Xiaowei Wang. Natürlich spielt sie auf die Folgen des zoonotischen Übersprungs von Covid-19 an und was er aus unserer menschgemachten Umgebung gemacht hat. Biosicherheit wird in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich zu einem Alltagskonzept, aber wir können uns noch nicht so richtig vorstellen, was das bedeutet. Die Gesichtsmasken in asiatischen Ländern kamen uns ja immer fremd, wie ein Bild aus einer uns unbekannten Zukunft vor. Nun sind noch ganz andere Dinge vorstellbar.
Epistemische Bescheidenheit
Der Ausdruck „epistemische Bescheidenheit“ ist mir hier begegnet. Ich habe mich sofort in ihn verliebt: Denn er beschreibt den Versuch, der komplexen und sich verändernden Wirklichkeit nicht mit der eigenen Rigorosität zu begegnen, sondern diese Wirklichkeit auch zuzulassen, selbst wenn das Unsicherheit bedeutet. „Waren wir uns jemals sicher?“, paraphrasiert das Essay der Frage der Existenzialisten. Die daraus abgeleitete Frage ist weiterhin faszinierend und unbeantwortet: Lässt sich auf diesem Bewusstsein der Unsicherheit eine Gesellschaft aufbauen?
Die Lebendigkeit in uns
What if you could do it all over?
Das ungelebte Leben – ein geliebtes, unerträgliches Thema rund um die Feiertage, dem der New Yorker ein längeres Stück gewidmet hat. Das Dilemma hat der oft unterschätzte kanadische Philosoph Charles Taylor historisch so verankert:
„Sometime toward the end of the eighteenth century two big trends in our self-understanding converged. We learned to think of ourselves as “deep” individuals, with hidden wellsprings of feeling and talent that we owed it to ourselves to find. At the same time, we came to see ourselves objectively—as somewhat interchangeable members of the same species and of a competitive mass society. Subjectivity and objectivity both grew more intense. We came to feel that our lives, pictured from the outside, failed to reflect the vibrancy within.“
Prognosen, die Zukunft betreffend
„Trumps Abwahl und Johnsons Niederlage könnten signalisieren, dass die populistische Welle gebrochen wurde“, schreibt Alan Posener bei Zeit Online. Das lässt sich angesichts der sich abzeichnenden Post-Corona-Verwerfungen als optimistisches oder naives Urteil interpretieren. Ich glaube, dass diese Prognose im Konjunktiv auf zwei Prämissen beruht:
1. Die Prägung der amtierenden westlichen politischen Populär-Publizistik durch die 1990er, konkret: Die Neigung, Fortschritt als natürliche geschichtliche Bewegung zu betrachten. Aus dieser Perspektive sind mögliche Richtungsänderungen nicht zu erkennen, weil sie nur als zwischenzeitlicher Rückschritt wahrgenommen werden.
Und 2. glaube ich weiterhin, dass wir über die nächsten Jahre nur sprechen können, wenn wir die Memefizierung der Politik besser verstehen – also die Kommunikation/politische Sozialisierung über vernetzte Ideen und Konzepte statt über politische Programme/Slogans/Parteien. Joshua Citarella wird dazu im Laufe des Januars etwas vorlegen, auf das ich schon gespannt bin.
Nawalny, der Kreml und die Bühne
Peter Pomerantsev analysiert den Konflikt als Zeichen dafür, wie sich Bild und Aufgabe des russischen Geheimdienstes verändert haben:
„By making the covert overt, the Kremlin (and Navalny) grasp the demands of the age of social media. Le Carré worked not only during the Cold War, but also within the confines of the novel, the fading world of print and the private self. Social media reduce privacy and interiority: there is no place on Instagram for the private, ‘hidden’ self. Secret services need to move with the technological times: what matters, in the words of a recent RAND Corporation analysis, is not whose army wins but ‘whose story wins’.“
Posthumer Knausgård
Dwight Garner präzise über Karl Ove Knausgård:
„He may, around 2045, win the Nobel Prize. He also seems, forgive me, a bit posthumous, in the sense that the culture is unlikely ever again to make the place for him that it did.“