Neulich wurde dieses Essay auf Social Media geteilt, von Drosten, Lauterbach und Menschen, die wir nicht durch Corona kennen. „Die Wahrheit ist nicht relativ“, lautet der Titel, aber im Kern lautet das Argument ungefähr: Es gibt Naturgesetze, und deren Funktionsweise nähern sich Naturwissenschaftler an und gewinnen so Erkenntnisse, deshalb ist die Kritik an der naturwissenschaftlichen Evidenz in der Corona-Krise natürlich Quatsch und kommt oft aus weniger prominenten Fächern.
Ich wundere mich, dass so etwas geteilt wird. Wenn das der Stand unserer Wissenschaftsdiskussion hierzulande ist, dann ist das sogar tief bedauerlich. Man muss nicht Thomas Kuhn folgen, um Wissenschaft eben nicht als Tätigkeit im luftleeren Raum zu betrachten. Oder eine komplexe Pandemie-Situation mit vielen Unbekannten eben nicht für etwas härtere Laborbedingungen zu halten. (Das Thema Peer-Review spare ich mir jetzt mal, weil es nur indirekt etwas mit der Coronakrise zu tun hat)
Das vom Autor genannte Argument „Sind halt Naturgesetze“ wird komplexeren Fächern wie der Medizin zum Beispiel ohnehin nicht gerecht. Oder der Epidemiologie mit ihren vielen Unbekannten. Auch würde ich zu behaupten wagen, dass der ernstzunehmende Teil der Kritik nicht die Naturwissenschaft oder Fakten ablehnt, sondern Zweifel daran hat, ob die Modelle die Komplexität korrekt abbilden. Und zur Kritik an den Modellen gab es ja zuletzt genügend Grund.
International läuft die Diskussion, die ja im Kern auf Lehren aus Covid-19 abzielt, inzwischen an. Hier zum Beispiel mit der banalen (aber richtigen) Formel „wissenschaftliche Glaubwürdigkeit durch einen nachvollziehbaren Prozess“. Oder hier die Aufarbeitung der Probleme medizinischer Studien zu Covid-19. Das hier zur Frage, wie Journalisten – und Wissenschaftler! – Risiko vermitteln, ist ebenfalls hilfreich. Alles das ist ein Anfang, mehr nicht.
Aber wir können natürlich auch weiterhin alles versuchen, mit den Gegensätzen „wissenschaftsbasiert vs. wissenschaftsleugnend/naiv“ oder „politisch motivierte Manipulation vs. echte Lage“ zu hantieren. Und uns dann wundern, warum alles Fandom wird. Okay, die Gegensätze habe ich natürlich etwas zugespitzt, es gibt noch genügend Vertreter und Vertreterinnen dazwischen. Aber ich verzweifle echt langsam daran, wie anspruchslos wir unterm Strich diese Debatten führen.
Dahinter der Paywall, kann ich den Artikel leider nicht lesen und muss mich auf das hier geschriebene beschränken. Daher nur zwei Gedanken:
Erstens: Wer mit Blick auf die Naturgesetze und die Wissenschaftstheorie mit dem Begriff der Wahrheit hantiert, tauscht eine Unschärfe gegen eine andere aus. Das macht das Bild nicht besser. Das trägt nichts zur Erkenntnis bei. Es illustriert aber wunderbar, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, unsere Welt vollständig zu beschreiben. Per se.
Zweitens: Da diese Unschärfen, hier wie dort, unangenehm sind, werden sie in der Kommunikation grundsätzlich ausgeblendet. Die Physiker machen es sich dabei am einfachsten, wenn sie komplexe Körper auf eine schematische Kugel im Raum reduzieren. Das führt über die Zeit dazu, dass wir nur scheinbare Klarheit besitzen. Daraus erwächst ein unangreifbares Expertentum, das in der Regel im Elfenbeinturm zu Hause ist und eifersüchtig darüber wacht, nichts von seinem Nimbus zu verlieren.
Im Ergebnis halte ich die nun herrschende Debatte für eine spannende. Wird sie richtig geführt, entzaubert sie die Bescheidwisser der Talkshows und die angeblich alternativlosen, auf Zahlenjonglage basierenden politischen Entscheidungen durch das eröffnen eines Raumes, in dem Unsicherheit obligatorisch ist.
Und vielleicht hilft uns das auch bei der allgemeinen fehlerkultur. Dort wo Toleranzen von Beginn an eingepreist sind, haben die Väter und Mütter nicht vollständig eingetretener Prognosen weniger Kotwind zu erleiden.
Ich fürchte, Adressaten für die Botschaft, wie sich Wissenschaft ganz grundsätzlich auf reale Sachverhalte bezieht, gibt es durchaus. Menschen, die selbst fundamentalste Erkenntnisse leugnen, wenn sie ihnen nicht ins Bild passen, habe ich im eigenen Umfeld. Nur werden die natürlich von so einem Essay in der ZEIT gar nicht erst erreicht. So etwas ist letztlich selbstbeweihräuchernde Social-Medi-Pose.
@Libralot Danke, ein sehr erhellender Kommentar! Ich habe mir sagen lassen, dass gerade in der Physik die Begeisterung für Debatten über Wissenschaftstheorie gering ist. Die Unsicherheit markieren…ja, das wäre was! Um Mark Fisher zu remixen: Wir können uns den Untergang des rationalen Denkens eher vorstellen als die Entstehung eines öffentlichen Kommunikationsraums, in dem Zweifel und Unsicherheit wieder einen zentralen Platz haben. Ok, mit „wir“ meine ich „ich“ (in pessimistischen Stunden).
@Paul Ja, manchmal unterschätze ich die Blüten der Realitätskonstruktion (de facto Vergangenheitskonstruktion). Dabei ist das eigentlich ein zentrales Thema dieses Blogs und meines Newsletters, hier hatte ich mal im (US-)politischen Kontext darüber geschrieben https://internetobservatorium.substack.com/p/aus-dem-internet-observatorium-01