Wenn ein komplexes, dynamisches System (sagen wir: eine Pandemie) in einen epistemischen Prozess eingespeist wird, der Unsicherheit und Mehrdeutigkeiten aussortiert (sagen wir: unser Medienkonsum- und Kommunikationssystem), dann kann das Ergebnis nur falsche Gewissheit sein. Denn der Wunsch, Kausalitäten der Covid-19-Pandemie festzustellen, kollidiert mit dem Zeitbedürfnis, das für den Ausschluss von Korrelationen oder der Entdeckung zusätzlicher Faktoren nötig wäre.
Beispiel: Die Gefahr schwerer Infektionsverläufe bei Kindern durch die Omikron-Variante. Kurz nach Auftauchen von Omikron in Südafrika verwiesen sowohl der Virologe Christian Drosten als auch der spätere Gesundheitsminister Karl Lauterbach auf eine höhere Gefahr schwerer Verläufe bei Kindern hin. Wenn auch bei Drosten zumindest einschränkend, bislang weise die aktuelle Datenlage darauf hin, die sich ändern könnte.
Die BBC ging später dieser Frage im Detail in Südafrika nach. Das Resultat: Das Sample ist klein, und es wird – wie bei uns übrigens auch – weiterhin statistisch nicht unterschieden, ob ein Kind mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurde oder ob es sich dort angesteckt hat. Ein weiterer Punkt: In der betroffenen Provinz leben viele Kinder in Armut und Unterernährung, ein Faktor, der Krankheiten begünstigt. Und: Die Kinder verließen das Krankenhaus meist nach zwei bis drei Tagen wieder. Der Anteil der Kinder-Aufnahmen ist inzwischen auch zurückgegangen.
Also: Die Sache ist komplex. Aber natürlich setzt sich das Omikron-Narrativ „Vor allem die Kinder sind vor schweren Verläufen bedroht“ gegen „In einem kleinen Sample von Krankenhaus-Einlieferungen sind Kinder, auf die bestimmte zusätzliche regionale Faktoren zutreffen, häufiger betroffen, allerdings oft nicht sehr lange.“ Ich unterstelle da Christian Drosten gar keine böse Absicht, er ist in der Regel abwägend; aber es liegt eben nicht nur an der medialen Darstellung, wenn solche Narrative sich halten.
Ich selbst habe während meiner Covid-Infektion im Frühjahr erlebt, wie kaputt mich als direkt Betroffenen die Versuche gemacht haben, Corona – damals noch die „britische Variante“ – als Werkzeug für die eigene Haltung zur Krankheit oder politische Maßnahmen zu verwenden. Denn nichts anderes ist Covid-Twitter in den meisten Fällen. Wenn es sinngemäß heißt „die Krankenhäuser sind voller Leute zwischen 35 und 50“, sich das aber nicht in den Statistiken findet (de facto war es nur ein kleiner Teil). Wenn von „Long-Covid wird Abermillionen betreffen“ die Rede ist, aber dann Studien herangezogen werden, die z.B. nicht einmal eine klare Abtrennung zwischen psychischen und körperlichen Folgen vornehmen, geschweige denn an einer klaren Definition von „Long Covid“ Interesse haben. Oder wenn es auf der anderen Seite heißt „Covid ist doch eine Erkältung“ während Du versuchst, deine Atemzüge zu zählen, um zu erkennen, ob Du eine Lungenentzündung hast. Sorry, aber dieser Mindfuck war schon damals genauso schlimm wie der körperliche Verlauf, der relativ glimpflich war.
Aber das nur am Rande. Was ich eigentlich sagen will: Wir navigieren durch komplexes Gebiet von unvollständigen Informationen (Deutschland hätte mit besserer Datenerhebung sicher etwas dagegen tun können). Und suchen gleichzeitig Gewissheiten, die es noch gar nicht geben kann. Schlimmer noch: Wir verbreiten diese Gewissheiten, weil wir längst in festgefahrenen Narrativen denken. Wer Covid-19 für eine Bedrohung von Kindern hält, wird bei der Rezeption von „Mehr Kinder-Einweisungen wegen Omikron in einer Region in Südafrika, aber…“ vor dem „aber…“ zu Lesen aufhören. Und ich ahne, dass dieser Diskursmodus Vivendi bleiben wird.
Aus diesem Blog (Februar 2021): »Die Diskussion über die Virusbekämpfung verlief schon immer nahe am Kulturkampf.«
Neben diesen diskursiven Grundreflex tritt die Ungeduld der Gesellschaft, jetzt doch endlich einmal a) die Sache beenden zu können bzw. b) sie soweit durchstiegen zu haben, dass nichts Überraschendes mehr passiert. Ich denke, wir sind es einfach nicht mehr gewohnt, über einen so einen langen Zeitraum keine Kontrolle zu haben. Oder wenigstens die Illusion davon.
Am wichtigsten aber: Es freut mich, dass es Ihnen wieder besser geht!
@Libralop: Danke für die guten Wünsche!
Und natürlich haben Sie inhaltlich recht.