Zeitgenossen und -genossinnen, denen ob des Entsetzens nicht ihre Analysefähigkeiten abhanden gekommen sind, denken wahrscheinlich gerade über Szenarien nach: Was genau ist das Exit-Szenario, das Putin gerade angeboten wird? Und was genau sollen die Sanktionen strategisch beitragen? Mit seiner militärischen Niederlage ist ja weiterhin nicht zu rechnen.
Zum Beispiel überlegte jüngst Adam Tooze:
„Wenn wir uns fragen, ob die Sanktionen die Militäroffensive stoppen können und die Kampagne wegen irgendwelcher Knappheiten aufhält, das ist sehr unwahrscheinlich. Sie haben genug Ausrüstung und Vorräte, um das durchzuziehen. Die Eskalation der Gewalt auf dem Schlachtfeld, die eine schreckliche Realität ist, ist unabhängig von dieser Frage.
Wenn die Sanktionen einen Zweck haben, der darüber hinausgeht, unsere Standfestigkeit zu zeigen – was wichtig ist… die Idee ist wohl, dass man den Druck an der Heimatfront erhöht, sodass Putin seine Meinung ändern muss. Und ich muss sagen, diese Vision halte ich auch für unrealistisch. Ich bin mehr als besorgt, dass im Hintergrund eine Vorstellung von Regimewechsel das Ganze antreibt. Weil alles andere nahelegt, dass die russische Bevölkerung sich wegen der wirtschaftlichen Nöte gegen Putin auflehnt, was ich nicht glaube. Er braucht nur eine nationalistische Mobilisierung einer Minderheit, um das wettzumachen, wir haben das im Iran als Logik erlebt. Du müsstest auch glauben, dass Putin sich im Angesichts einer solchen Opposition entscheiden würde, klein beizugeben. Aber alles was wir über seinen Charakter wissen – und ich gebe zu, Charakterstudien sind unpräzise – scheint es in die Gegenrichtung zu deuten. Dass wir es mit einem Menschen zu tun haben, der in die Enge gedrängt den Einsatz erhöht und aggressiver wird. Aber wenn das der Fall ist, scheint das Modell auf einer dritten Annahme zu beruhen: Dass bei einer gefährlichen Eskalation einige Mitglieder der Elite eingreifen und ihn stoppen werden. Und das ist im Kern das Szenario eines Regimewechsels. Und das beinhaltet einen Berg von Unwägbarkeiten, Annahmen und Hochrisiko-Szenarien. (…) Und ich sehe nicht, worauf diese Modell basieren könnte.“
Nun ist auch die internationale Reaktion, das „Handlungen haben Konsequenzen“ wichtig und relevant. Aber auch die strategischen Entscheidungen des Westens haben Konsequenzen.
Doch nach welchen Kriterien werden diese Entscheidungen getroffen? Das wird in den nächsten Wochen sehr wichtig. Tanner Greer hat jüngst auf die Erklärung des Militärkenners Michael Mazarrs für das amerikanische Irak-Fiasko hingewiesen. Nämlich dass in der amerikanischen Führung die „Logik der Konsequenzen“ (also die Abwägung der Folgen im Hinblick auf die Lage vor Ort und die eigenen Interessen) durch eine „Logik der Angemessenheit“ ersetzt wurde.
Mazarr's answer is that under certain circumstances, the "logic of consequences" is overtaken by what he calls "the logic of appropriateness." pic.twitter.com/ZytazvfNQh
— T. Greer (@Scholars_Stage) February 28, 2022
Heißt: Es ging nicht um den Ausgang, sondern um die angemessene Haltung – also die Entscheidung, was „richtig“ ist.
Nun hat eine angemessene Haltung in unserem Wertesystem zurecht einen prominenten Platz – eine politische Logik, die sich nur auf Überlegungen zu Konsequenzen stützt, ist im Zweifel eine zynische, opportunistische Logik. Aber die „angemessene Haltung“ in diesem Konflikt würde theoretisch zu x Szenarien führen, in denen die Nato plötzlich Krieg mit Russland führt.
Die reine Logik der angemessenen Haltung ist also strategisch brandgefährlich. Und Rhys Lindmark weist völlig richtig darauf hin, dass diese Logik durch öffentliches Social Media – in dessen Kern ja immer die Diskussion über die „angemessene Haltung“ steckt – gerade mächtig Oberwasser hat. Ob und wie das die politischen Entscheidungen beeinflusst, werden wir in den nächsten Monaten erleben.