Mein Blog ist mein Notizblock. (Nicht mehr als Newsletter erhältlich, aber hiermit mal wieder weitergeführt)
Der Stand der Dinge
Essentialisierung: Jemanden oder etwas als „Ding ohne inneren Widerspruch“ zu charakterisieren und ihm bestimmte Einzigartigkeiten zuzuweisen – gefährlich. Und die Voraussetzung für schlechte Einschätzungen, Entscheidungen, im schlimmsten Fall für Entmenschlichung. Allerdings gibt es auch etwas wie Kontinuitäten. Aber wo liegt bei historischen Bewertungen die Grenze?
Dieses Interview mit dem Russland-Experten Stephen Kotkin wurde relativ gefeiert. Allerdings gibt es auch Kritik, die hier am besten formuliert wird: Nämlich, dass solche Schlüsse wie, sinngemäß „Russland war im 19. Jahrhundert autoritär, militarisiert und begegnete dem Westen mit Misstrauen. Daran hat sich wenig geändert.“ Blödsinn sind. Wer sich ein wenig mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt, weiß, dass Militarisierung und Autoritarismus nicht explizit russisch war. Oder dass zum Beispiel Alexander I. durchaus mit liberalen Reformen liebäugelte und Alexander II. mit seiner Modernisierung nicht die Sterne vom Himmel geholt hat, wohl aber in seiner Richtung ebenfalls liberal agiert hat. Ich glaube, George Kennan war da deutlich differenzierter, zwischen Klischee und Kontinuität zu unterscheiden. Aber vielleicht finde ich ihn auch nur als aus der diplomatischen Praxis kommende historische Figur vertrauenserweckender als Kotkin.
Was wir natürlich auch beachten müssen, ist eine gewisse Russophobie, die in Teilen des amerikanischen Politbetriebs herrscht. Ich hatte darüber mal 2017 anlässlich der „Russiagate“-Diskussionen etwas @SZ geschrieben. „Der amerikanische Blick auf Russland ist narzisstisch, wir bewerten das Land immer danach, ob es sich auf uns zu oder von uns weg bewegt“, sagte mir damals der Russland-Historiker Sean Guillory. Was natürlich auch nicht ganz differenziert ist, aber nicht völlig von der Hand zu weisen ist.
Das alles ist in den kommenden Wochen und Monaten nicht irrelevant: Denn natürlich haben die Falken in der US-Außenpolitik Oberwasser. Und jenseits des völlig berechtigten Wunsches, Putins Eroberungspläne zu durchkreuzen, gibt es aus amerikanischer Sicht natürlich das Bestreben, Putin eine vollständige Kriegsniederlage und damit auch eine Demütigung zuzufügen. Vorstellungen über einen Endkampf jahrhundertelanger Vertreter von Autoritarismus gegen Freiheit hebeln schnell Fragen zur Verhältnismäßigkeit von Strategie und Mitteln aus. Ich hoffe, dass Europa sich da etwas differenzierter positionieren wird.
Graubereiche
- Hilfreich: Alexander Gabuevs Einschätzungen.
- Hilfreich II: Emma Ashford im Podcast von Ezra Klein.
Dunkel
Über den Krieg als Handlung, das Töten an sich ließe sich aus der Ferne nichts schreiben, was dem gerade gerecht werden würde. Beziehungsweise: Ich bin froh, dass ich die Freiheit habe, dazu nichts zu schreiben.
Und damit ein Cut.
Widerspruch und „Widerspruch“
Diese beiden Texte, ein NYT Editorial und ein Atlantic-Essay, sind Teil der ständigen amerikanischen Debatte über Sagbarkeit. Und werden entsprechend von jenen, die Cancel Culture für ein Hirngespinst halten, verspottet. Auf Deutschland bezogen halte ich die Cancel-Culture-Debatte für völlig aufgebauscht, aber dennoch ist natürlich auch hierzulande eine Blockbildung in Sachen Meinungsspektrum festzustellen. Eine langweilige Blockbildung, weil man eigentlich schon vorher weiß, wer auf welcher Seite stehen wird. Aber unabhängig vom Thema Cancel Culture: Wer dem Argument „Meinungsfreiheit heißt nicht, bei dummen Aussagen keinen heftigen Widerspruch zu kassieren“ jede Diskussion abkürzt, sollte sich schon so ehrlich machen und eingestehen, dass es eben auch Widerspruchsmethoden gibt, die andere zum Schweigen bringen sollen. Und eben nicht einfach nur „Argumente“ sind.
Wer noch nicht deprimiert genug ist…
…könnte diesen Auszug aus einem Buch über den Alltag von Straßenkindern in der Hauptstadt von Sambia lesen. Realitäten, die in unseren Breitengraden noch schwerer als Krieg vorstellbar sind. Ich glaube, das ganze Buch in seiner Komplexität wird sehr lesenswert, immerhin war es eine dreijährige Langzeitbetrachtung.
Sonstiges
- Klimawandel: Nachdem Australien vergangenes Jahr in einem diplomatischen Kraftakt verhindert hat, dass die UN das Great Barrier Reef auf die Liste der gefährdeten Weltkulturerbe-Stätten setzen, wird das Riff nun von einem weiteren weitflächigen Bleich-Ereignis heimgesucht.
- Guantanamo: Freigegebenen Akten zufolge hat die CIA 2003 den Terrorverdächtigen Ammar al-Baluchi als Versuchsperson für Verhör-Seminare von Agenten verwendet. Die Agenten schlugen in einem afghanischen Geheimgefängnis seinen Kopf wiederholt gegen eine Sperrholzwand. 2018 stellten Ärzte Hirnschäden bei al-Baluchi fest. Er ist heute noch in Guantanamo inhaftiert. Seinen Anwälten zufolge wurde sein Fall für die Folterszenen im Film „Zero Dark Thirty“ verwendet, wo die Folter als gerechtfertigt dargestellt wird.
Foto: Henry Tayali – Village Scene at Night (CC-BY-SA 4.0, Wikipedia)