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Werden und Moral

Lose Notizen zu zwei Literatur-Essays…

Melinda Harvey bespricht in der Syndey Review of Books die 2020 viel diskutierte Biografie über Susan Sontag, und das in einem Selbstgespräch. Ein riskantes, faszinierendes Format im Stile eines dialogischen Katechismus, aber das nur am Rande.

Worum es mir geht, ist ein Charakterzug Sontags, der im Mittepunkt steht: Ihre Überzeugtheit davon, immer im Werden zu sein. Einerseits war das ein Versuch, ihre Vergangenheit und speziell ihre (unglückliche) Herkunft hermetisch zu versiegeln abzuriegeln; andererseits Ausdruck der Überzeugung, irgendwie das Beste immer noch vor sich zu haben. Zitat:

„At 66, [Sontag] called an attempt to write her biography ‘a futile or unserious enterprise’ because her life, she felt, was far from over. At 71, on her deathbed, she refused to farewell friends and family.“

Das ist abenteuerlich und sehr weit weg von dem, wie andere Menschen ihr Leben angehen. Denn die Verankerung in der Vergangenheit ist Teil der Biographie, und selbst wenn wir das abzustreiten versuchen, hält sie uns entweder fest oder wird im Laufe der Zeit einfach ein so großer Teil unseres Lebens (weil sie anwächst und anwächst), dass wir sie umarmen müssen, ja oft wollen (#Nostalgie). Mir ist Sontags zwanghafter Blick nach vorn sehr fremd, im bürgerlichen Sinne ließe sich sogar etwas Psychopathologisches erkennen, das mit Angst vor dem Tod nur unzureichend beschrieben ist.

Ein zweites literarisches Essay aus den vergangenen Tagen möchte ich hier auch noch erwähnen: Jon Baskin hat im New Yorker über einen nun ausgekoppelten Teil aus David Foster Wallaces posthum erschienenen Roman geschrieben. Der Inhalt ist dabei gar nicht so relevant, aber die Synopse Baskins über Wallaces Blick auf die Moral:

„The story is simultaneously about the lifesaving necessity of sincere, moral commitment and about the impossibility of finding a worthy object for that commitment in the historical period that immediately precedes our own.“

Ein Moralist, der Moralismus nicht zur gesellschaftlichen Anwendung bringen kann, muss sich wie ein Fisch ohne Wasser fühlen. Und Baskin merkt an, dass nach Wallaces Tod das neoliberale Zeitalter ziemlich schnell endete – und mit diesem Ende die Ethik der Überzeugung wieder Einzug in den amerikanisch-westlichen Zeitgeist hielt.

Weitere kurze Notizen im Microblog.

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