Vor ein paar Tagen bei Aldi an der Kasse: Vor mir steht eine junge Frau, Bügelkopfhörer auf dem Kopf, offenbar mit einer Freundin telefonierend. Es geht um Job, Reisen, solche Dinge. Sie schiebt ihre Sachen aufs Band, unterhält sich weiter. Der Kassierer will, bevor er sie abrechnet, sich schnell etwas zu trinken einscannen mit einem Mitarbeiter-Gutschein, scheitert dabei, holt sich Hilfe von der Nebenkasse. Die Frau telefoniert währenddessen, geduldig durch Ablenkung. Schließlich sagt der Kassierer: „Jetzt rechne ich erstmal die Kundin ab, damit sie dran kommt, obwohl sie ja im Gespräch ist.“ Sie bekommt die Bemerkung nicht mit, denn sie ist ja im Telefonat, telefonierend zahlt sie auch und verschwindet.
Natürlich eine Alltagsbegebenheit, aber in mir kam wieder dieses Gefühl hoch: Dieses Gefühl aus San Francisco.
Als wir 2014/2015 in San Francisco gelebt haben, fühlte sich das widersprüchlich an: Einerseits kam es mir so vor, wie in meiner Vorstellung Paris in den 1920ern gewesen sein muss. Der Ort, an dem man sein muss, an dem die Dinge „passieren“. Nur eben nicht kulturell, sondern in Sachen Software. Auf der anderen Seite fühlte sich der Alltag wie eine dystopisch eingefärbte Zukunft an. Google-Mitarbeiter mit Gucci-Rucksäcken, die über Obdachlose steigen, um morgens ihren Firmenbus zu erreichen. Solche Dinge.
Und was mich damals schon irritierte und mir Unbehagen bereitete: Diese Neigung der Techies, die Stadt als Kulisse zu betrachten. Oder es zumindest so erscheinen zu lassen. Dieses Hinwegkonsumieren einer zivilisatorischen Architektur, das Desinteresse an den verschiedenen Ebenen, die eine Stadt ausmachen.
Und damit einhergehend Begegnungen mit anderen, digitalbranchenfernen Einwohnern nur noch im Dienstleistungs-Kontext. Denn das eigentliche Ding, das passierte ja in der Firma oder online oder in der Konsole. Die Stadt war letztlich nur der Rahmen, wie der schöne Hintergrund eines Bildes. Dabei ist San Francisco kein Ort, die Menschen vernachlässigen würden. Vordigitale Menschen.
Und genau dieses Gefühl hatte ich bei besagter banaler Kassen-Begebenheit: Der Ort, an dem man lebt, tritt in den Hintergrund; Menschen werden zu Teilen von Service-Abläufen, die einfach noch nicht digitalisiert sind; am Ende hat man sich mit personalisierter Ambient-Realität umgeben. Augmented Reality wird diesen Trend noch verstärken.
Ich weiß, dass ich das Ganze natürlich symbolisch auflade. Aber ich habe Angst, echte Angst, in einer solchen Welt leben zu müssen.
Das muss ich erstmal sacken lassen. Das ist beunruhigend beängstigend und beunruhigend bekannt zugleich. Ich frage mich, ob ich nicht wie einer dieser Techies ticke. Menschen als Teile von Dienstleistungsabläufen. Menschen als Service-Workflow-Komponenten. Davor graut es mir. Ich sitze gerade wegen Covid isoliert seit Tagen allein in unserem Schlafzimmer, während meine Familie und das Leben ausserhalb der Tür und der Fenster stattfinden. Und frage mich langsam, warum ich nicht schon längst die Krise gekriegt habe, mich nur auf 14 Metern aufzuhalten. Weil mein Essen regelmäßig vor der Tür steht, und mein Kopf eh ständig im Netz verweilt?
Danke für Deine Beobachtung und Deine Deutung. Das muss ich erstmal sacken lassen.
„Diese Neigung der Techies, die Stadt als Kulisse zu betrachten. Oder es zumindest so erscheinen zu lassen. Dieses Hinwegkonsumieren einer zivilisatorischen Architektur, das Desinteresse an den verschiedenen Ebenen, die eine Stadt ausmachen.“
Ist das wirklich so neu?
Haben nicht vielmehr die „Herrschenden“, die „Eliten“ nicht genau so gelebt?
Hatten die sich denn für das „einfache Volk“ interessiert, es vielmehr wahrgenommen? Passierte das „echte“ Leben nicht am Hof statt in den stinkenden, überfüllten Straßen der Stadt? War nicht schon früher „die Stadt letztlich nur der Rahmen, wie der schöne Hintergrund eines Bildes.“
@Konstantin: Erstmal gute Besserung an euch!
@Ute: Nunja, da ist tatsächlich etwas dran. Ich hatte ja in meinem Newsletter mal diese Anekdote erwähnt:
Gleichzeitig beunruhigt mich dieser unausgesprochene Übergang zum Cocooning in der eigenen Realität, der schon etwas über „He, der trägt ja einen Walkman im Bus“ hinausgeht. Und nicht nur deshalb, weil er jetzt Mainstream ist und nicht mehr den Reichen und Schönen vorbehalten (hoffe ich zumindest).
»Diese Neigung der Techies, die Stadt als Kulisse zu betrachten.«
Als Kulisse, in der etwas gespielt wird, an dem man sich jedoch selbst nicht beteiligt, ja. Ich würde sogar einen Schritt weiter gehen und dieses Verhalten allen attestieren, die ein eher funktionales Verhältnis zu ihrer meist temporär genutzten Umgebung pflegen. Ich sehe das hier in meiner Universitätsstadt im Osten, die gerne auch als das „Neue Berlin“ bezeichnet wird und seit anderthalb Jahrzehnten von jungen Menschen aus ganz Deutschland als Setting ihrer Lebens-Sitcom (Episode: „Ich studiere!“) verbraucht wird. Nicht nur materiell, sondern auch sozial.
Gleiches gilt für arbeitsbedingte Zuzüge, die ein Biotop auf Zeit um sich herum errichten, ohne wirklich anzuwachsen, zu hegen, zu pflegen. Um im Bild zu bleiben: Die bestellen sich einen Gärtner, um das von ihnen als Gestrüpp wahrgenommene Umfeld nach ihren Wünschen zu restrukturieren. Die Stadt, ein einziger Schottergarten.
Zurück bleiben jene, die zurück bleiben müssen.
@Libralop: Gutes Bild, das mich zum Nachdenken bringt. Vielleicht stört mich, dass die Menschen Teil dieser Kulisse sind – und zwar nicht nur diejenigen, denen man physisch begegnet, sondern sogar diejenigen, mit denen man interagiert.