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Richard Glazar

Heute vor 25 Jahren hat sich Richard Glazar umgebracht.

Die Redewendung von der „Hölle auf Erden“ ist in ihrer Bedeutung längst entkernt. Doch Richard Glazar hat sie erlebt. Die Hölle auf Erden. Das Vernichtungslager Treblinka. Eine Mordmaschine, betrieben von Menschen. Nicht im Wahn, sondern mit kühler Rationalität und minutiöser Niedertracht.

Zehn Monate lebte Glazar 1942/43 in der deutschen Todesfabrik. Das ist eine lange Zeit an einem Ort, an dem am Ende ein Menschenleben von der Ankunft bis zur Auslöschung nur noch 90 Minuten dauerte. Glazar überlebte, weil er arbeiten „durfte“: Der damals 22-Jährige musste die Wertsachen der Ermordeten sortieren, inklusive ihres Zahngolds.

Hunderttausende Morde, Hunderttausende ermordete Menschen, die Glazar gesehen hat. Teil der „Aktion Reinhardt“, die planmäßig durchgeführte Ermordung aller Juden und Roma im von Deutschland besetzten Polen. Ständig optimiert, ungehemmt von aller Menschlichkeit und jedem Erbarmen. Glazar erzählte einige Jahrzehnte später im Gespräch mit Claude Lanzmann:

„So habe ich erlebt, dass [SS-Scharführer August] Miete in Treblinka eine schwangere Frau erschossen hat, die gerade in Geburtswehen war. Damals habe ich mir gedacht: In Treblinka endet das Leben, noch bevor es begonnen hat.“

In seinem Buch „Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka.“ hat Glazar später das Geschehene aufgeschrieben. Das Manuskript verfasste er bereits kurz nach dem Krieg: Er sah es als sein Vermächtnis und als Tribut an die Opfer. Denn auch dies bedeutete es, Tag für Tag in Treblinka zu leben:

„Und man hat sich gewünscht, dass irgendwas geschehe. Und jemand, wenigstens einer, überlebt, der aussagen kann, was in Treblinka geschieht. Weil, wir haben alle Angst gehabt, die Welt wird eigentlich nie erfahren über Treblinka. Und eben dieser Gedanke, dass die Welt über Treblinka erfahren muss, hat uns zu dem Aufstand geführt.“

Am 2. August 1943 begannen die jüdischen Häftlinge ihren lange geplanten Aufstand. Hunderte von ihnen wurden dabei erschossen. Glazar gelang gemeinsam mit seinem Mithäftling Karel Unger die Flucht. Unter falscher Identität erreichten sie Deutschland (ausgerechnet), arbeiteten dort als Rüstungsarbeiter und überlebten so bis zum Kriegsende. Die SS baute Treblinka wenige Woche nach dem Aufstand ab, beseitigte die Spuren so gut es ging und errichtete auf dem Gelände zur Tarnung einen Bauernhof. Innerhalb der 13 Monaten des Bestehens hatte die SS in Treblinka zwischen 860.000 und einer Million Menschen ermordet. Glazar gehörte zu den insgesamt nur etwa 60 bis 80 Gefangenen, die das Vernichtungslager überlebten.

Nach dem Krieg wurde Glazar zu einem wichtigen Zeitzeugen und Zeugen im Treblinka-Prozess. Er verließ seine Heimat Prag nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und ging in die Schweiz.

Glazar beschrieb einmal die Präzision und Nüchternheit, mit der er vor Gericht und in Interviews vom Leben und Morden in Treblinka erzählte, als schlichte Notwendigkeit:

„Ich weiß, ich muss darüber möglichst nüchtern aussagen, mit so einem gewissen Understatement, sonst wird es nicht wirksam. Und ich will, dass es wirksam ist. Im Namen aller, die in Treblinka geblieben sind.“

Wie traumatisiert Glazar war, lässt sich in den Koordinaten des Vorstellbaren nicht ermessen. Denn wenn das deutsche Vernichtungsprojekt uns selbst aus zeitlicher Ferne so unbegreifbar, die Dimensionen menschlicher Taten und die Kategorien des Bösen sprengend erscheint: Was muss es bedeuten, in dieser Welt zu leben, dort jeden Tag umgeben von Tod die Sonne aufgehen zu sehen?

Im Jahr 1997 starb Richard Glazars Ehefrau an Krebs. Kurz vor Weihnachten 1997 besuchte der 77-Jährige mit seinen Kindern Prag. Am Morgen des 20. Dezember traf sich Robert Glazar dort in einem jüdischen Altenheim mit seiner Cousine. In einem unbeobachteten Moment ging er ans Fenster, öffnete es und sprang hinaus. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief.

Ich erinnere an Richard Glazar in großer Dankbarkeit. Und ich verneige mich vor allen Opfern von Treblinka, deren Geschichte unerzählt bleibt.

Zwei der Zitate stammen aus diesem Kontraste-Beitrag:

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