Mit der Raffinesse eines Holzhammers haben uns die vergangenen Jahre klar gemacht, dass unser blindes Vertrauen in den historischen Fortschritt fehlgeleitet war.
Der Triumph des Westens im Jahr 1989 erscheint heute weit entfernt, die aus ihm abgeleiteten geschichtlichen Prognosen kurzsichtig und von einem Wunschdenken getrieben, das den einstigen Fantasien sozialistischer Erlösung in nur wenig nachsteht.
Die Rache der Realität – in Deutschland war sie 2022 so spürbar wie schon lange nicht mehr. Und dann doch wieder nur mittelbar: Denn trotz Krieges, Krisen und einer hohen Zahl von Geflüchteten hält die Zivilisation als „Kruste über dem Vulkan“ weiterhin. Zumindest in der Mehrheitsgesellschaft.
Auch, weil Regierungshandeln inzwischen vom Schnüren großer Geldpakete zur Bekämpfung der Krisensymptome geprägt ist. Ob dies die Rückkehr des Leviathans markiert oder eher als Zeichen wachsender politischer Impotenz zu deuten ist: Diese Frage bleibt noch unbeantwortet.
Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit allerdings zieht sich als Motiv durch verschiedene Phasen des „deutschen Jahres“. Die Selbstüberschätzung Olaf Scholz’ in seinem Einfluss auf Putin vor dem 24. Februar; die deutlich gewordenen Versäumnisse in der Energiepolitik, aber auch die Verschleppung anderer notwendiger Infrastruktur-Investitionen in den „Jahren der schwarzen Null“. Damit einhergehend eine notwendige Korrektur des Merkel-Bildes, das – wie so oft hierzulande – sofort in eine Überkorrektur mündete.
Folgt aus alledem nun eine Form von Aufbruch, die oft geforderte deutsche Selbstneuerfindung? Die wirtschaftlichen, geopolitischen und technischen Veränderungen würden dies nötig machen. Doch die politische und handwerkliche Bilanz der selbsternannten „Fortschrittskoalition“ ist hier überschaubar, selbst wenn man die schwierigen Umstände in Betracht zieht.
Politik agiert allerdings nicht im luftleeren Raum. Die Fixierung auf den Status Quo ist und bleibt der Dreh- und Angelpunkt unserer alternden Gesellschaft. In akuten Krisenzeiten stabilisiert dies den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In Form des Nichthandelns externalisieren wir jedoch einmal mehr gesellschaftliche, ja zivilisatorische Kosten. Ein schwacher Trost mag sein, dass fehlender Weitblick kein deutsches Phänomen ist, wir im globalen Vergleich sogar noch recht gut abschneiden.
Womit wir bei einem kurzen Blick in die Welt wären. Die internationale Lage ist auf der Nordhalbkugel geprägt vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ein Konflikt, der im Westen gerne als Kampf Autokratie gegen Demokratie beschrieben wird. Das klammert nicht nur die ukrainischen Rechtsstaats-Defizite aus, sondern ist auch bequem; lassen sich doch so die Geschichte beider Länder und die Folgen der Sowjetrepubliken-Konstellation ausklammern.
Wie dem auch sei: Eine Friedenslösung ist derzeit nicht in Sicht. Wenn Russland in keiner Konstellation Vertrauen geschenkt werden kann, dann erscheint nur ein vollständiger Regimewechsel in Moskau oder eine komplette Rückeroberung der besetzten Gebiete als Schlüssel zum Frieden. Aus dieser Logik erscheinen „Flugzeuge und Panzer“ für die Ukraine als der einzige Weg, den Konflikt zu beenden.
Wer solche Szenarien vertritt, muss allerdings auch das Risiko einer kompletten Destabilisierung Russlands in Kauf nehmen. Und sollte auch nicht die Möglichkeit eines drohenden russischen Atomschlags gegen Kiew verschweigen, sobald ukrainische Truppen den Boden der Krim wieder betreten. Genau wegen dieser Risiken ist es höchst problematisch, diplomatische Ansätze in Bausch und Bogen abzulehnen.
Im Schatten des russischen Angriffskriegs nahm dieses Jahr der Konflikt zwischen den USA und China inzwischen deutlichere Konturen an. Es sind Konturen einer sich anbahnenden Blockbildung mit anschließender militärischer Auseinandersetzung. Auch hier müssen wir inzwischen leider davon ausgehen, dass die Regeln geopolitischer Vernunft mittelfristig nicht mehr gelten werden.
Mein Ausblick ist deshalb kein positiver. Das Jahrzehnt wird noch lang, und die akuten Folgen der Klimakrise wird vieles noch verkomplizieren. Mit „Generative AI“ steht zudem das nächste digitaltechnologische Paradigma vor der Tür, dessen Folgen wir – ähnlich wie bei der Social-Media-Revolution – kaum absehen können.
2016 habe ich hier formuliert, was seit damals mein Leitmotto ist, um das Weltgeschehen zu verstehen: Es wird keine Rückkehr zur Normalität geben. 2022 war dies deutlich wie nie. Und 2023 wird es nicht anders sein.
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