Ivan Illich, einer der spannendsten Denker aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat 1996 den Satz gesagt:
“Ich glaube, wenn in dieser Welt der Technologie (…) so etwas wie ein politisches Leben für uns bleibt, dann beginnt es mit Freundschaft.”
Vorab: Illichs Technologie-Begriff ist sehr umfassend. Vom gängig Nachvollziehbaren (Technik, die sich ein System schafft, an dessen Logik wir uns anpassen) über das Umstrittene (seine Kritik am Schulwesen als institutioneller Technik) bis zum Problematischen (seine Analyse der Schulmedizin und ihrer Institutionen).
Illich war aber kein absolutistisch argumentierender Technologie-Skeptiker, sondern forderte “gesellige Werkzeuge” (convivial tools): Technik, die Menschen die Möglichkeit zum Entdecken, Basteln und Verändern geben. Lee Felsenstein ließ sich bei der Entwicklung des ersten kommerziell erhältlichen tragbaren Computers durch Illichs Philosophie inspirieren. Sicherlich finden sich auch Verbindungen zur Hacker-Ethik.
Aber zurück zur Freundschaft als Grundlage für ein politisches Leben in einer technologisierten Welt: Für Illich ist Freundschaft immer mit dem Gastmahl verbunden.
Der Philosoph Andrew J. Taggart hat auf Illichs Vorstellung von Freundschaft als “Conspiracy” im Ursprungssinn hingewiesen: con-spirare, gemeinsam atmen. Die Freundschaft, die während des Gastmahls entsteht, besitzt demnach durch drei Merkmale:
- Das Vertrauen, das Co-Conspiratoren einander gegenseitig schenken.
- Die Gastfreundschaft, die die Gäste sich mit dem “Einander-Gegenüber-Sein” erweisen.
- Das Erschaffen einer Gemeinschaft zu dieser Gelegenheit, die diese Atmosphäre pflegt und aufrechterhält.
Das alles klingt erst einmal sehr nach hippiesken Folk Politics – wir setzen uns an einen Tisch und entwickeln daraus politisches Handeln.
Aber ich finde den Gedanken sehr relevant: Die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen, die wir Social Media zuschreiben, hängen direkt mit der Formatierung unserer Kommunikation und der Sortierung durch die Technologie zusammen. Öffentliche Kanäle sind von emotionalen Affekten, Stammesdenken und Datenbank-Dynamiken geprägt. Das Mediensystem funktioniert nach den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie. Nicht nur formal, sondern auch im Resultat ist das alles das Gegenteil eines Gastmahls.
Illich bemerkte, dass Gastfreundschaft in früheren Kulturen “in der Politik eine Bedingung für eine gute Gesellschaft“ war. Nun könne sie der Ausgangspunkt für Politik sein.
Ich würde das im Jahr 2023 umformulieren. Die Tugenden, die ein gutes Gastmahl ausmachen, könnten auch die Bedingung für gute Politik sein. Sowohl in der Auseinandersetzung, als auch beim Erkennen von Problemen und der Suche nach Lösungen. Das Versammeln an einem Tisch, das Anerkennen der Präsenz und Überzeugungen des Gegenübers, die Bereitschaft zum geduldigen Zuhören.